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Erbe der Sowjetzeit: Der einst reiche Agrarexporteur kauft seine Nahrung nun im Ausland

 
     
 
Der Blick aus dem Flugzeug vermittelt dem Besucher eine Vorstellung von Estland mi seinen Wäldern, Wiesen und Feldern wie auch dem Anteil der Gewässer in ihrem noc ursprünglichen Lauf. Wer nach der Landung weiter im Wagen nach Pernau, Dorpat oder Narw fährt, wird von der Landschaft in sattem Grün gefesselt, deren gesunden Zustand nich zuletzt die zahlreichen Störche beweisen. Längere Beobachtung weckt aber zwangsläufi Fragen zu den vielen verfallenen bäuerlichen Anwesen und den weiten Flächen, die nich mehr genutzt werden.

Spätestens, wenn beim Frühstück im Hotel deutsche Kaffee
sahne und Joghurt wie in de Fernsehwerbung auf dem Tisch stehen, fragt der Gast vom anderen Ende der Ostsee nach de Zusammenhängen in einem Land, in dem eigentlich Milch und Honig fließen könnten. Die aktuelle Lage überschrieb ein englischer Autor treffend: "Land of milk but n money." Das estnische Wort für Landwirtschaft põllumajandus ist zusammengesetzt au põld – Acker, Feld (wir hören hier die deutsche Wurzel) und majandus – Wirtschaft.

Estland, der nördliche der drei baltischen Staaten, war im 20. Jahrhundert mehrfac tiefem und hartem Wandel unterworfen. Nach der Bildung der selbständigen Republik in Jahre 1918 aus der früheren Provinz Estland sowie dem nördlichen Teil Livlands führt das Agrarreformgesetz vom 10. Oktober 1919 zu einem fundamentalen Eingriff in die soziale und wirtschaftlichen Strukturen. Sämtliche Rittergüter, Landgüter un Pastoratsländereien wurden enteignet. Neben der Entmachtung der deutschbaltische Oberschicht war damit das Ziel verbunden, bisher landlosen Landarbeitern zu eigenem Besit zu verhelfen und so einen weitgestreuten bodenständigen Grundbesitz als Abwehr gegen die kommunistischen Einflußversuche des drohend benachbarten Sowjetrußland zu schaffen.

Bis Mitte der 20er Jahre war die Landreform im wesentlichen abgeschlossen. Es bestande damals mehr als 120 000 Höfe. Estland wurde damit ein Land des Kleingrundbesitzes Aber es entstand ein für europäische Vorkriegsverhältnisse relativ wohlhabender Staa mit einer Landwirtschaft, die nicht nur den Eigenbedarf sicherstellen, sonder Exportüberschüsse erzielen konnte.

Die Eingliederung Estlands in die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg war von viele Gewaltakten begleitet – nicht zuletzt um die Kollektivierung der Agrarbetriebe zu erzwingen, der sich die Bevölkerung mit allen Mitteln widersetzte. Die Deportationen de Jahres 1949 zerstörten die ländlichen Strukturen. Auf diese Weise wollte Moskau auch de von den"Waldbrüdern" gegen die sowjetische Besatzungsmacht im Untergrun geführten Kampf die Stütze entziehen, die er auf dem Lande fand.

Nach der landwirtschaftlichen Kollektivierung und der Einführung der Planwirtschaf gaben Parteifunktionäre Aussaat und Ernte vor. Dies führte dazu, daß Mitte der 50e Jahre die Produktivität auf die Hälfte des Wertes vor der Sowjetbesetzung gesunken war Noch heute sind die unansehnlichen Mehrfamilienhäuser aus vorgefertigten Betonteilen in den ländlichen Siedlungen steinerne Zeugen dieses Niedergangs.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre brachte Estland die erneut Unabhängigkeit. Als einer der ersten Schritte zu wirtschaftlicher Selbständigkeit wurd nach 1991 die Landwirtschaft radikal reformiert. Im Gegensatz zu Lettland und Litaue führte Estland einen vollkommen offenen Agrarmarkt ein. Lebte im Jahre 1925 nur jede vierte Este in den Städten, so hat sich das Verhältnis inzwischen umgekehrt. Weniger als dreißig Prozent der 1,45 Millionen Einwohner wohnen auf dem Lande. Was das für die Zah der Beschäftigten bedeutet, verdeutlichen folgende Zahlen: 1925 waren 60 Prozent alle Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, 1993 noch 17 Prozent und zur Zeit nur ga jeder Zehnte. Diese zehn Prozent erwirtschaften sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukte (BIP). Demgegenüber umfaßt der Dienstleistungssektor 57 Prozent der Beschäftigten mi einem BIP-Anteil von 65 Prozent.

Die in der Gesamtstruktur der Wirtschaft also recht unbedeutende Landwirtschaft mußt 1999 weitere Einbußen hinnehmen, wie der Jahresbericht des estnische Landwirtschaftsministeriums hervorhebt. Ein langer kalter Frühling und ein trockene Sommer waren ungünstig für die Viehwirtschaft. Nur die Getreideproduktion wuchs, vo allem wegen des ausgeweiteten Anbaus von Flachs und Raps sowie höherer Erträge pr Hektar. Auch die Kartoffelernte war besser als 1998. Der im Jahre 1998 begonnene Verfal des Milchpreises hielt indessen an und beeinflußte das Ergebnis der Viehwirtschaft.

Im Jahre 1999 importierte Estland landwirtschaftliche Produkte im Wert von 67 Millionen Mark. Der Wert der Agrarausfuhren lag gerade bei der Hälfte und nahm gegenübe 1998 noch um zwölf Prozent ab, während die Einfuhr um 25 Prozent zugelegt hatte.

An der Spitze des Exports stand Fisch mit 38 Prozent, gefolgt von Molkereiprodukten mi 23 Prozent, davon ein Drittel in die EU mit steigender Tendenz. Demgegenüber nahm de traditionelle Export dieser Produkte in das benachbarte Rußland um zwei Drittel ab. Die wichtigsten Exportpartner für die estnische Landwirtschaft waren die EU mit 30 Prozent gefolgt von Lettland mit 20 Prozent. Rußland erscheint nur noch mit 8,7 Prozent in de Statistik. Bei der Einfuhr steht die EU mit 59 Prozent an der Spitze, gefolgt von de Ukraine mit elf Prozent.

Billige Importe aus dem Westen trugen zum Preisverfall bei. Ein Beispiel: Der um 5 Prozent gesteigerte Import von Schweinefleisch verringerte den Absatz estnischer Schwein um zehn Prozent und verursachte entsprechende Verluste. Die komplexen Zusammenhäng zeigen sich auch darin, daß verringerte Einnahmen den Zukauf von Futter verhinderten woraus eine Verminderung des Bestandes folgte , was zu weiter sinkenden Einnahmen führte 1999 schloß mit einem Verlust von 20 Prozent gegenüber 1998. Wohin man blickt: Die estnischen Bauern kämpfen ums Überleben.

Aus dieser ungünstigen finanziellen Lage ergab sich, daß 1999 nur noch umgerechne 32,5 Millionen Mark investiert wurden. Um die estnische Landwirtschaft für die Aufnahm in die EU reif zu machen, wären nach Expertenschätzung jedoch 750 Millionen Mark nötig insbesondere für Investitionen für Milchwirtschaft und die Ausstattung mi Landmaschinen. Die Regierung in Reval versucht mit ihren bescheidenen Mittel gegenzusteuern durch direkte Zahlungen, Zuschüsse, Zinsverbilligungen un Steuernachlässe. Diese Maßnahmen wurden aber 1999 um 33 Prozent gegenüber 199 zurückgefahren.

Angesichts der finanziellen Schwierigkeiten gewährt allerdings noch eine Stiftun "Landwirtschaft und Ländliches Leben" kleinen und mittleren Unternehme Kredite. Weiterhin gibt es einen "Ländlichen Kreditgarantiefonds" zu Absicherung von Anleihen.

Für das Jahr 2000 erwarten die Agrarfachleute des Landes zwar eine Zunahme des Werte der Agrarproduktion. Doch auch die Produktionskosten steigen, wie es heißt: Insbesonder Dünger und Kraftstoff würden noch teurer. Das Unternehmereinkommen werde dennoch u zwölf Prozent steigen. Weiter abnehmen indes werde die Zahl der Beschäftigten, weil die niedrigen Löhne die Abwanderung weiter forcierten.

Der Zusammenbruch von Unternehmen wird die regionale Arbeitslosigkeit anschwelle lassen. Weitere zehn Prozent der Anbaufläche werden stillgelegt, was zu eine Steuerausfall für den Staat führt.

In den abgelegenen ländlichen Gebieten herrscht ohnehin hohe Arbeitslosigkeit: da e nur für ein Jahr ein niedriges Arbeitslosengeld gibt, ist die genaue Zahl de Erwerbslosen allerdings kaum zu ermitteln. Die Landwirtschaft liegt am Ende der Lohnskala Die amtliche Statistik weist für 1999 310 Mark als Monatslohn aus. Dahinter folgt nu noch das Gastgewerbe mit 281 Mark. Diese Stellung zeigt auch die Statistik de ausländischen Investitionen: nur drei Prozent des Kapitals fließen dem Agrarsektor zu Ein Grund dafür sind die häufig ungeklärten Eigentumsverhältnisse am Boden, dere Ursache wie in Deutschland die Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft durch da sowjetische Regime ist. Privatisierung des in Staatseigentum stehenden Bodens bleibt ein Aufgabe hoher Priorität, um die Landwirtschaft zu stabilisieren.

Reval sieht die Entwicklung der dünnbesiedelten ländlichen Regionen des kleine Staates mit Sorge. Experten des Landwirtschaftsministeriums arbeiten noch an einem Pla zur Entwicklung des Hinterlandes, der als Gesetzesvorlage dem Parlament zugeleitet werde soll.

Hoffnungen für ein tragfähiges Zukunftskonzept ruhen auf de Landwirtschaftsuniversität in Dorpat. Deren Forscher sollen, so heißt es, einen Plan zu nachhaltigen Gebrauch der natürlichen Ressourcen erarbeiten und die ländlich Entwicklung fördern. Schon der Gründer der Universität von Dorpat, der Schwede Joha Skytte, hatte 1632 – wohl mit Blick auf die Besitz- und Einflußerteilung – geäußert: "… auch die Bauern dieses Landes sollen ihren Anteil an den Quelle der Erziehung erhalten."

Nach wiedergewonnener staatlicher Unabhängigkeit wurde 1991 die Estnisch Landwirtschaftliche Universität – Eesti Põllumajandus Ülikool – gegründet Dort wirken 1450 Mitarbeiter, darunter 520 Wissenschaftler und rund 3000 Studenten in de Fakultäten Landbau, Agrartechnik, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Forstwesen Veterinärwesen sowie Landwirtschaftliches Ingenieurwesen. Die letztere Fakultät stell eine Besonderheit dar, weil sie Schwerpunktaufgaben gewidmet ist, die aus dem negative Erbe der Sowjetzeit herrühren. Hauptforschungsgebiete sind: Methoden der Planung fü Bodenverwaltung (hier geht es um Flächenstrukturen und Katasterwesen) und Bodenreform Erfassen und Bewerten landwirtschaftlicher Liegenschaften und Bauten einschließlich de Umweltschäden.

Die dramatischen Veränderungen in der Landwirtschaft bestimmen einen ehrgeizige Entwicklungsplan für die Universität bis zum Jahre 2006. Hierfür werden die Lehrplän modernen Erfordernissen angepaßt, strenge Qualitätskontrollen in der Lehre eingeführ und die interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert. Auch die Wirtschaft soll einbezoge werden, um den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes flexibel Rechnung tragen zu können.

Die Betrachtung der estnischen Landwirtschaft kann sich nicht auf die quantifizierbare Elemente beschränken. Die Seele eines Volkes mit tiefverwurzelter bäuerliche Vergangenheit muß ebenso verstanden werden. Die brutalen Eingriffe der Sowjets in da estnische Leben vernichteten nicht nur den das Land tragenden Kleinbauernstand, sonder erstreckten sich auf weite Bereiche der überlieferten Lebensform.

Die Erinnerung daran war eine der Kraftquellen des Überlebens während der lange Fremdherrschaft. Fast jeder Este hat sich seine Bindung an die bäuerliche Herkunf bewahrt. Der Kleingarten als Teil des Lebens in der Sowjetunion ist heute zwar kein zwingende Lebensvoraussetzung mehr, als Bindung an den Boden aber sehr lebendig und träg im übrigen mit stolzen 30 Prozent zur landwirtschaftlichen Produktion bei.

Was sich aus dem Verfall der Landwirtschaft über die ungleichgewichtige Entwicklun zwischen dem Nordraum um die Hauptstadt und dem übrigen Land hinaus für Folgen ergeben kann heute noch nicht beurteilt werden.

Wie hält man die junge Generation auf dem Lande, wenn in der Stadt um ein Vielfache höhere Löhne bei sehr viel angenehmeren Lebensbedingungen locken, ist eine der große Fragen der Zeit. Die estnische Politik hat den Ernst der Lage offenbar erkannt.

 
     
     
 
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