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In Korruption erstarrt: Die Ukraine in den Fängen von Mafiosi und bezahlten Politikern

 
     
 
Anfang Juli gelang es dem Parlament in Kiew, einen neuen Rekord in der Geschichte des Parlamentarismus nicht nur dieser ehemaligen Sowjetrepublik aufzustellen: zum 18. Mal scheiterte das Parlament bei seinem Versuch, seit den Wahlen vom 29. März dieses Jahres einen neuen Parlamentspräsidenten zu bestimmen. Dieses Amt ist nicht nur an sich ein politischer Machtfaktor, sondern auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil im Oktober kommenden Jahres in der Ukraine Präsidentenwahlen stattfinden und das Amt des Parlamentspräsidenten einem potentiellen Kandidaten eine gute Ausgangsbasis verschafft.

Der amtierende Staatspräsident Leonid Kutschma nutze diese mehrmonatige politische Selbstblockade des Parlaments in Kiew, um einige Dekrete zu erlassen, mit denen die Tätigkeit von Klein- und Mittelbetriebe
n erleichtert und das Investitionsklima in diesem größten, rein europäischen Flächenstaat mit seinen 50 Millionen Einwohnern verbessert werden soll. Doch die Erwartungen, die mit diesen Dekreten zu verbinden sind, müssen als äußerst gering eingestuft werden. Schließlich hat Kutschma erst am 9. April in einer Rede vor der ukrainischen Regierung kritisiert, daß immerhin 40 Prozent aller Anweisungen nicht oder nicht zufriedenstellend umgesetzt würden, die nach Staatsbesuchen oder Verhandlungen des Präsidenten erlassen worden seien. Dieser Prozentsatz dürfte - vielleicht sogar in einem noch größeren Ausmaß - wohl auch auf Anweisungen zutreffen, die Kutschma selbst der chaotischen Verwaltung seines Landes erteilt. Sie werden offenbar nach dem alten Motto behandelt: "Rußland ist groß und der Zar ist weit".

Gerade diese Stellungnahme und die weiteren Ausführungen Kutschmas zeigen das Dilemma auf, in dem sich die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit vor knapp sieben Jahren befindet, und das durch die jüngsten Parlamentswahlen noch verstärkt wurde: gemeint sind Reformunfähigkeit und Reformunwilligkeit im Inneren sowie Rechtsunsicherheit und Korruption. Alles Erscheinungen, die das Land primär für westliche Investoren unattraktiv erscheinen lassen. Diesen Umstand illustriert eine einzige wirtschaftliche Kennzahl: Während allein im Jahre 1997 in Rußland etwa 18 Milliarden Mark Direktinvestitionen zu verzeichnen waren, beträgt die Summe der gesamten ausländischen Investitionen in der Ukraine seit der Unabhängigkeit 1991 lediglich zwei Milliarden Dollar, mit einer im laufenden Jahr leicht steigenden Tendenz. Während es der politischen Führung in Kiew im vergangenen Jahr gelungen ist, durch die erfolgreiche Teilung der Schwarzmeerflotte, durch die Grundlagenverträge mit Rußland, Rumänien, durch die Nato-Charta und die Aussöhnungserklärung mit Polen auf außenpolitischem Gebiet die Stellung der Ukraine zu konsolidieren, ist der innere Umwandlungsprozeß weitgehend zum Stillstand gekommen.

So gab etwa Präsident Kutschma in seiner bereits zitierten "Kopfwäsche" für die eigene Regierung an, daß die Zahl der unrentablen Betriebe von zwölf Prozent im Jahre 1995 auf fast 50 Prozent im Jahre 1997 gestiegen sei. Im Februar dieses Jahres waren bereits ganze Wirtschaftsbranchen unrentabel, wobei der Präsident etwa die Eisen-, die Petrochemie-, die Maschinenbau- und die Leichtindustrie aufzählte. Darüber hinaus entwickelt die Ukraine immer mehr die Exportstruktur eines Entwicklungslandes, das Rohstoffe aus- und Fertigwaren einführt.

In der Haushaltspolitik wird ein weiteres Desaster der Ukraine sichtbar; so betrug das Defizit allein im ersten Quartal 1998 über 1,1 Milliarden Mark und überschritt damit bereits nach drei Monaten jene Marke, die als Defizitobergrenze für das gesamte Jahr 1998 vorgesehen war. Im Gegenzug erreichten die ukrainischen Schulden für russische Einfuhren zum 1. April wiederum die Summe von 1,8 Milliarden Mark, ein Umstand, der Anfang Juli auch dazu führte, daß Rußland Teile der Ukraine vom gemeinsamen Stromnetz abkoppelte, das noch aus sowjetischer Zeit stammt. Diese Abhängigkeit der Ukraine gegenüber Rußland wird noch dadurch erschwert, daß ukrainische Produkte auf westlichen Märkten kaum gefragt oder erwünscht (Landwirtschaft - EU) sind.

In einem Interview mit der Zeitschrift "Im Namen des Gesetzes" vom 19. Dezember 1997 (Seite 5) hat Innenminister Krawtschenko auf ein neues Element in der Entwicklung des Verbrechens hingewiesen, nämlich auf die rasche Politisierung der Organisierten Kriminalität (OK). Demnach werden große Unternehmungen unter dem Schutz korrupter Politiker und Vertreter von Behörden gegründet, wobei ein Eindringen in großem Maßstab in die politischen Strukturen zu beobachten ist. So haben große Unternehmen und die OK Kapital aus kriminellen Aktionen angehäuft, das nunmehr in die Politik investiert wird, um politische Maßnahmen im eigenen Interesse manipulieren zu können.

Ergänzt wird diese Ansicht durch einen Bericht vom 14.12.1997, darin zitiert "Kiew Intelnews" den Leiter des Sicherheitsdienstes der allgemeinen ukrainischen Verwaltung, Kasianenko. Während einer Sitzung des Koordinierungskomitees für den Kampf gegen Korruption und OK des Krim-Parlaments sagte dieser, daß der Wahlkampf kriminellen Strukturen und Clans eine gute Möglichkeit biete, ihr Geld zu investieren. Seinen Angaben zufolge haben kriminelle Organisationen das Territorium der Krim sogar informell in Wahlbezirke aufgeteilt, wobei Kasianenko hinzufügte, daß die politischen Strukturen sogar von den Kriminellen lernen könnten, wie man einen Wahlkampf führt.

Im Wahlgesetz wurde auch die Finanzierung der Parteien festgelegt. Demnach werden Wahlkämpfe durch Mittel aus dem Staatsbudget, durch die Mittel politischer Parteien oder der Direktkandidaten sowie durch Spenden finanziert. Nach Artikel 37, Absatz 6 werden staatliche Unterstützungen oder Spenden ausländischer Unternehmen ausdrücklich untersagt. Anonyme Spenden müssen gemäß Artikel 37, Absatz 7 an den Staatshaushalt weitergeleitet werden. Die Parteien sind verpflichtet, spätestens sieben Tage vor der Wahl ihre Finanzierung gegenüber der zentralen oder einer regionalen Wahlkommission offenzulegen. Spätestens zwei Tage vor der Wahl muß die jeweilige Wahlkommission Angaben über die Parteienfinanzierung veröffentlichen (Artikel 37, Absatz 11).

Angesichts der niedrigen staatlichen Unterstützung (insgesamt waren im Budget für die Finanzierung der Parlamentswahlen vom 29.03.1998 nur ca. 300 Millionen Mark vorgesehen) sind ukrainische Parteien in hohem Maße abhängig von Spenden privater ukrainischer Unternehmen. Solche Spenden sind in der Regel Gegen- oder Vorausleistungen an Parteipolitiker für deren Lobbyismus. Vor allem Parteien, zu deren Mitgliedern Mitarbeiter der staatlichen Administration zählen, werden in diesem Sinne unterstützt.

Die Schattenwirtschaft beherrscht in der Ukraine nach Schätzungen 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deshalb kann es kaum überraschen, daß auch die Parteienfinanzierung weitgehend "im Schatten" erfolgt. So wurden und werden nach Ansicht ukrainischer Beobachter des Wahlkampfes die meisten Finanztransaktionen der Parteien mit Bargeld und somit ohne nachprüfbare Kontobewegungen abgewickelt. In nahezu allen wichtigen Parteien finden sich Vertreter der Finanzelite in der Parteiführung, beinahe hinter jeder Partei stehen machtvolle Großkonzerne. Bei den Direktkandidaten waren etwa 40 Prozent Manager staatlicher Großunternehmen und private Geschäftsleute, deren Firmen im Umfeld staatlicher Großbetriebe tätig sind. Auch kriminellen Strukturen und halbkriminellen Clans boten die Parlamentswahlen umfangreiche Möglichkeiten, ihr in der Schattenwirtschaft erworbenes Kapital zu "investieren".

Angesichts der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Lage und wegen der weitverbreiteten politischen Apathie steigerte die durch Geldgeber verbesserte Finanzlage einer Partei unmittelbar deren Wahlchancen. Bereits im Wahlkampf 1994 wurde die außerordentliche Bedeutung finanzieller Zuwendungen deutlich: Viele Regierungsangehörige und Direktoren staatlicher Betriebe, die sich um ein Mandat bewarben, setzten sich für die Zahlung überfälliger Löhne und Pensionen in der Zeit vor den Wahlen ein, verteilten "Wahlzuckerl" und Agrarsubventionen. Auf dem Land stimmten Kolchosen geschlossen für Kandidaten, die ihnen Wahlgeschenke (in Form landwirtschaftlicher Ausrüstung) zusagten. Nach Umfragen soll fast ein Drittel der ukrainischen Wähler bereit gewesen sein, ihre Stimme an den meistbietenden Kandidaten zu verkaufen, wobei die "Preisangaben" zwischen zehn und 400 US-Dollar (etwa 700 Mark) schwankten.

Angesichts dieser Umstände dürfte es zweifellos beträchtlichen Teilen der OK gelungen sein, sich bei der Parlamentswahl und den gleichzeitig durchgeführten Regionalwahlen fest in den politischen Strukturen des Landes zu verankern. Wenngleich dafür natürlich keine Beweise vorliegen, gibt es doch einige relevante Indizien dafür. Zu nennen sind beispielsweise das Wahlergebnis der Regionalwahlen auf der Krim, bekanntermaßen eine Hochburg der OK. Dort stellen nunmehr nicht die Kommunisten mit ihren 36 Mandaten im 100 Sitze umfassenden Parlament die Mehrheit, sondern die "Wirtschaftstreibenden" mit 47 Abgeordneten. Über den Wahlkampf auf der Krim heißt es in einem Artikel der ukrainischen Parlamentszeitung (Holos Ukrainy): "Kandidaten, die von der Schattenwirtschaft unterstützt wurden, hatten nicht nur Flugblätter, sondern auch Poster und Farbplakate ausreichend zur Verfügung und waren auch im TV vertreten. Dagegen waren die sogenannten unabhängigen Kandidaten gezwungen, ihre Flugblätter und Plakate selbst zu drucken und sie wie ein Verbrecher in der Nacht selbst an den Wänden aufzukleben". Einen weiteren Hinweis für die bedeutende Rolle, die das Schwarzgeld beim Wahlkampf gespielt hat, erlaubt die beträchtliche Diskrepanz zwischen den offiziellen Angaben über die Wahlkampfkosten der Parteien und den zu vermutenden tatsächlichen Ausgaben.

Nach Angaben der zentralen Wahlkommission hat die Volksdemokratische Partei mit umgerechnet knapp 1,7 Millionen Mark die höchsten Wahlkampfkosten aufzuweisen. Die Vereinigte Sozialdemokratische Partei gab nach offiziellen Angaben nur eine gute halbe Million Mark nur für den Wahlkampf aus, sie liegt damit an der achten Stelle in der Wahlkampfstatistik. Dieser Angabe steht jedoch entgegen, daß die Vereinigte Sozialdemokratische Partei allein in der ersten Märzhälfte 58 Sendeminuten für Parteiwerbung in einem einzigen Fernsehkanal gekauft hatte. Eine derartige Werbeminute kostet nach Angaben dieses Kanals umgerechnet ca. 11 500 Mark, das bedeutet, daß die Vereinigte Sozialdemokratische Partei alleine für diese TV-Werbung umgerechnet 670 000 Mark ausgegeben und damit bereits mehr als ihr gesamtes Wahlkampfbudget verbraucht hätte. Ähnlich widersprüchlich und unglaubwürdig sind auch die Angaben der anderen wahlwerbenden Gruppen. Somit bleibt als einzige Hauptfinanzquelle das Kapital der Schattenwirtschaft, dessen zur Verfügungstellung zweifellos an Bedingungen geknüpft war und ist.

Neben der Kontrolle über politische Parteien nutzen finanzindustrielle Gruppen die Kontrolle über die Medien, um Einfluß auf politische Entscheidungsprozesse zu gewinnen. Die den Zeitungsmarkt dominierenden auflagestarken Publikationen werden entweder von der Regierung subventioniert oder von den regionalen Gas- und Energiekonzernen sowie wichtigen kommerziellen Banken finanziert.

Nahezu alle wichtigen Druckmedien hängen – mehr oder weniger – von politischen "Paten" ab und lassen sich auch in ihrer Berichterstattung verschiedenen Spitzenpolitikern und Machtzentren zuordnen. Die von der Regierung subventionierten Zeitungen und Zeitschriften zeigen – trotz der in der Verfassung garantierten Pressefreiheit – eine Tendenz zur Selbstzensur. Die der Opposition zurechenbaren Medien füllen diese Lücke, indem sie über sensible Themen berichten, die das Ansehen der herrschenden Nomenklatura schädigen. Ob Lasarenko, Kutschma (Präsident), Moros (Parlamentssekretär) oder Martschuk (früherer Ministerpräsident), sie alle verfügen im Hintergrund über finanzindustrielle Interessengruppen, die ihren wirtschaftlichen und medialen Einfluß sichern, über diese Personen aber auch ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen geltend machen. So kontrolliert Lasarenko etwa den Konzern "Vereinigte Energiesysteme der Ukraine" (Präsidentin ist die Parlamentsabgeordnete Julia Timoschenko), der 1996 eine vorherrschende Position am ukrainischen Gasmarkt ausübte und nach Angaben des "Internationalen Instituts für Strategische Studien" allein in jenem Jahr mehr als 18 Milliarden Mark erwirtschaften konnte. Generell kontrolliert Lasarenko die Industrie von Dnjepropetrowsk, des zweitgrößten Bezirks der Ukraine, sowie die lokalen Medien, aber auch zwei Tageszeitungen in Kiew. Präsident Kutschma wiederum stützt sich auf Unternehmen in Kiew, auf der Krim, in Luhansk, auf den Raketenkonzern Piwdenmasch (SS-20) in Dnjepropetrowsk sowie auf einige Banken, die staatlichen Medien und einige Zeitungen. Martschuk hat seine Basis in Donetsk, dem größten Verwaltungsbezirk der Ukraine, wobei (streikende) Bergleute der Kohlengruben dieser Region bereits mehrmals gegen die Zentralregierung in Kiew instrumentalisiert wurden. Mit der Wochenzeitung "Zerkalo Nedjeli" (Spiegel der Woche) und der Tageszeitung "Djen’" ist Martschuk auch auf dem Mediensektor präsent. Parlamentspräsident Moros sowie die Kommunisten haben ihre Basis ebenfalls in der Ostukraine, wobei sie sich vor allem auf landwirtschaftliche Genossenschaften, aber auch auf einige industrielle Großbetriebe stützen können. Im Mediensektor sind die Kommunisten am schwächsten vertreten, während Moros über Einfluß bei der Parlamentszeitung "Holos Ukrainy" (Stimme der Ukraine) verfügt, deren Chefredakteur allerdings der Partei Lasarenkos (Hromada) zuzurechnen ist. Diese Achse Moros–Lasarenko kam auch im Wahlkampf zum Tragen wobei die entscheidende Auseinandersetzung des Wahlkampfes zwischen Lasarenko und Präsident Kutschma sowie der Volksdemokratischen Partei von Ministerpräsident Pustowoitenko stattfand. Die nationaldemokratische Partei "Ruch" dominiert die Westukraine sowie den Zeitungsmarkt dieser Region, ist aber am überregionalen Medien- und Wirtschaftssektor nur wenig präsent.

Die jüngsten Wahlen haben Ende März den erwarteten politischen Linksruck gebracht, zu einer grundlegenden Veränderung der bestehenden Kräfteverhältnisse wird es (zumindest vorläufig) jedoch nicht kommen. Zwar stellen die linken Parteien etwas mehr als ein Drittel der Abgeordneten und können so Verfassungsänderungen blockieren, jedoch nicht selbst herbeiführen. Zu der von den Kommunisten angestrebten Abschaffung des Präsidentenamtes oder zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Leonid Kutschma wird es aller Voraussicht nach nicht kommen. Angesichts des zersplitterten politischen Zentrums, das an die 200 Mandate im 450 Sitze zählenden Parlament in Kiew umfaßt, und eines nationaldemokratischen "Flügels" mit etwa 50 Sitzen, ist jedenfalls nicht mit klaren Mehrheitsbildungen und den so dringend notwendigen Reformschritten zu rechnen.

Im Zuge der Fraktionsbildung nach den Wahlen wurden vor allem die sogenannten 114 unabhängigen Kandidaten umworben. Dabei sollen quer durch alle Parteien zwischen 45 000 und 90 000 Mark für den Beitritt eines Abgeordneten zu einer Fraktion gezahlt worden sein. Im Zuge dieser "Anwerbungen" gelang es vor allem der "Partei der Macht", den Volksdemokraten von Ministerpräsident Pustowoitenko, die Fraktionsstärke von 28 auf 90 Mandate zu erhöhen; somit gehören zwei Drittel der Fraktionsmitglieder nicht dieser Partei an. Am zweiterfolgreichsten war die Hromada, die 17 Abgeordnete hinzugewinnen und ihre Fraktion auf 40 Mitglieder steigern konnte. Die Sozialdemokraten gewannen acht Unabhängige hinzu, die Grünen fünf, Ruch einen, so daß noch etwa 40 fraktionslose Abgeordnete im Parlament verbleiben.

Es ist damit zu rechnen, daß diese Abgeordneten vor allem ihre eigenen Interessen vertreten werden, ein Umstand, der die Vorhersagbarkeit von Mehrheitsbildungen nicht gerade erleichtert. Dazu wird erwartet, daß der Löwenanteil dieser Politiker im Interesse einer Stabilisierung der ukrainischen Wirtschaft eher die Position von Präsident Kutschma stützen wird, wenn die persönlichen Interessen dieser Abgeordneten befriedigt werden oder mit den Plänen Kutschmas übereinstimmen.

Die außenpolitische Integration der Ukraine in die euroatlantischen Strukturen hält mit den wirtschaftlichen und strukturellen Reformen in keiner Weise Schritt; die Ukraine gleicht somit einer "Dame ohne Unterleib", deren Kopf – sprich politische Elite – mit eindeutiger Mehrheit nach Westen tendiert, während die ökonomische Basis sogar hinter die russische Reformpolitik zurückgefallen ist. In diesem Sinne äußerte sich auch Gennadij Udowenko, der langjährige ukrainische Außenminister, der sein Amt abgab, um das für die nationaldemokratische Liste Ruch errungene Parlamentsmandat anzunehmen. In einer Bilanz einer Kiewer Zeitung beschrieb Udowenko am 14. April dieses Jahres das seiner Ansicht nach beachtliche Potential für außenpolitische Aktivitäten der Ukraine in Richtung Westen, um dann aber selbst festzustellen: "Es gibt ein enormes Potential in diese Richtung, aber diese Entwicklung benötigt zusätzliche finanzielle Mittel, die leider in der Ukraine sehr begrenzt sind. Daher habe ich gesagt, daß die Mittel der Außenpolitik erschöpft worden sind, und zwar in dem Sinne, daß sich unsere wirtschaftliche Situation nicht geändert hat."

Diese wirtschaftlichen Zwänge wird auch Udowenkos Nachfolger, Boris Tarasiuk, zu spüren bekommen. Tarasiuk galt als logischer Nachfolger Udowenkos, da er sich stets konsequent für die Unabhängigkeit der Ukraine und für deren klare Westorientierung eingesetzt hat. Darüber hinaus war Tarasiuk mehrere Jahre Botschafter der Ukraine in den Benelux-Staaten und – was noch wichtiger ist – bei der Nato. Tarasiuks Hauptziel in der ukrainischen Außenpolitik bleibt die Europäische Union. Diese Orientierung entspringt nicht nur der Erkenntnis, daß eine Nato-Mitgliedschaft mittelfristig unrealistisch ist, sondern wird auch von der Erkenntnis bestimmt, daß die Hauptbedrohungsfaktoren in der strukturellen und wirtschaftlichen Schwäche der Ukraine zu suchen sind. Der politische Spielraum des neuen ukrainischen Außenministers Boris Tarasiuk wird aber in beträchtlichem Umfang durch die innenpolitische Stagnation beschränkt.

Von weit größerem Einfluß auf die Außenpolitik der Ukraine, insbesondere auf die Beziehungen zur Russischen Föderation, ist die Ende Oktober 1999 bevorstehende Präsidentenwahl. Dieser Wahlgang bzw. der bald einsetzende Wahlkampf sowie die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Reformunfähigkeit der Ukraine werden das Verhältnis zwischen Moskau und Kiew weit stärker beeinflussen als die Parlamentswahl. Das gilt nicht nur für Amtsinhaber Kutschma, der angesichts kaum vorhandener wirtschaftlicher Erfolge zur Gewinnung des großen russischen bzw. russischsprachigen Wählerpotentials besonders stark auf ein gutes Verhältnis zu Moskau angewiesen ist. Auch alle anderen potentiellen Kandidaten werden in den kommenden 16 Monaten auf dieses Potential Rücksicht nehmen müssen, ein Umstand, den wohl auch die Führung in Moskau auszunutzen gedenkt. In diesem Zusammenhang ist ein Artikel interessant, der in der Zeitschrift "Moskowskije Nowosti", Nr. 13 (5. bis 12. April 1998), zur Beziehung zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation nach den Wahlen erschienen ist. Darin heißt es sinngemäß, daß es für Rußland an sich egal sei, wer Präsident in der Ukraine ist. Im Wahlkampf müßten alle Kandidaten zumindest verbal eine prorussische Haltung einnehmen. Nach der Wahl würde der neue Präsident sich dann von dieser Haltung distanzieren, weil keine ukrainische Elite die Macht, selbst über ein derart geschwächtes Land, verlieren wolle. Vielmehr fürchte die Ukraine die Konkurrenz des weit stärkeren und viel aggressiveren russischen Kapitals sowie den kulturellen und politischen Einfluß der Russischen Föderation.

Rußland verfüge aber über machtvolle Trumpfkarten. Die Mehrheit der ukrainischen Einwohner befürworte freundliche Beziehungen mit Rußland, und mangels anderer Erfolge oder realistischer Versprechen über wirtschaftliche Erfolge müßten sogar traditionell antirussische Kräfte in der Ukraine die prorussische Karte spielen. Die Russische Föderation müsse daher ihre Minimalforderungen und Interessen im Zusammenhang mit der Ukraine in realistischer Weise bestimmen und ihren Vorteil aus diesem 16monatigen "window of opportunity" vor der Wahl ziehen. Als vorrangige russische Interessen bezeichnet der Autor des Artikels u. a. die Regelung der Grenzfestlegung zwischen beiden Staaten. Dabei müsse verhindert werden, daß die Festlegung der Grenze auf der Karte zu einer Markierung der Grenze auch im Gelände führe. Festgelegt werden müsse weiters ein striktes System für die Schuldentilgung der Ukraine sowie eine stärkere Förderung der russischen Sprache in der Ukraine. Außerdem verlangt der Autor, daß russische Unternehmen, aber auch anderes ausländisches Kapital, bei der Privatisierung in der Ukraine berücksichtigt werden. Grundsätzlich sollten die Russische Föderation sowie ihre Medien und ihre Wirtschaftsführer nur jene ukrainischen Politiker unterstützen, deren Handlungen auf konstruktive Beziehungen zwischen beiden Ländern hinweisen, fordert der russische Journalist.

Zu einer ähnlichen Analyse kommt auch der Autor eines Beitrages in der russischen Zeitung "Trud" vom 4. April 1998. Um die Wähler der östlichen und südlichen Regionen der Ukraine zu gewinnen, werde Kutschma gezwungen, eine prorussische Haltung an den Tag zu legen. Die Bedeutung des russischen Faktors hätten auch die anderen potentiellen Präsidentenanwärter Martschuk, Lasarenko, Moros und der kommunistische Parteivorsitzende Simonenko erkannt. Das Spielen der russischen Karte bedeute jedoch nicht, daß der nächste ukrainische Präsident prorussisch sein werde. Wörtlich schreibt der Autor: "Die ukrainische Elite ist, anders als die Bevölkerung, in vielen Bereichen bereits westorientiert und bereit, ihre Sympathien für unser Land sofort nach der Wahl des Präsidenten zu vergessen. Aber bis dahin werden wir genügend Gelegenheiten haben, offene Fragen zu regeln, einschließlich jener, die die GUS betreffen." Indes: "Das prokommunistische Parlament der Ukraine könnte diese Beziehungen verkomplizieren, nicht weil es gegen die Russische Föderation sei, sondern als Ergebnis der fehlenden Begeisterung für die Marktwirtschaft und die Privatisierung an sich."

Die Parlamentswahl in der Ukraine bildete gleichsam Vorspiel und Auftakt für den Präsidentenwahlkampf. Im Parlament haben sich die Kutschma-kritischen Kräfte verstärkt, doch wurden gleichzeitig durch das Wahlergebnis zwei potentielle Kutschma-Herausforderer, die früheren Ministerpräsidenten Lasarenko und Martschuk, eher geschwächt. Das Abschneiden ihrer Parteien, die nur durch das überzeugende Abschneiden in einigen Regionen den Einzug ins Parlament schafften, kann nicht als machtvolle Ankündigung einer Kandidatur für höhere Ämter verstanden werden. Zweifellos hat aber der Wahlkampf mit seinen undemokratischen Facetten (Verbot von Zeitungen, Attentate, Anschläge, Manipulationen) bereits einen Vorgeschmack auf den Präsidentenwahlkampf geboten. Da kein potentieller Kandidat in den kommenden 16 Monaten seine Chancen wird mindern wollen, ist zweifellos mit einer fortgesetzten Stagnation des politischen Systems und der Wirtschaft in der Ukraine zu rechnen. Obwohl Kutschma derzeit in der Ukraine ausgesprochen unpopulär ist, ist der Ausgang der Präsidentenwahl nach wie vor völlig offen. Sollten die Kommunisten ihren Vorsitzenden Simonenko nominieren oder die vereinigten Linken Moros als Kandidaten aufstellen, ist jedenfalls damit zu rechnen, daß Kutschma Jelzins Wahlkampfstrategie wiederholen und einen harten Lagerwahlkampf gegen die "kommunistische Bedrohung" führen wird.

Die Parlamentswahl in der Ukraine wird den außenpolitischen Kurs des Landes zumindest mittelfristig nicht beeinflussen, dazu fehlen dem Parlament die Kompetenzen; außerdem ist die vereinigte Linke nicht stark genug. Für Deutschland, aber auch für die USA und die EU stellt sich zunehmend die Frage, auf welche Weise die strategisch bedeutsame Unabhängigkeit der Ukraine noch sinnvoll unterstützt werden kann. Eine Fortsetzung der bisherigen Politik, die de facto Finanzhilfe für Reformzusagen gewährt, die regelmäßig nicht erfüllt werden, ist jedenfalls keine erfolgversprechende Strategie. Vielmehr werden deutsche und westliche Politiker der ukrainischen Führung klarmachen müssen, daß ihr Land mittel- bis langfristig nicht vom Ausland vor den negativen Konsequenzen der eigenen Reformunfähigkeit und -unwilligkeit bewahrt werden kann.

 
     
     
 
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