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Amadeus Kerglich

 
     
 
Vom Seeufer drang lautes Stimmengewirr herüber. Als Amadeus die Anhöhe des kleinen, tief verschneiten Hügels erreichte, konnte er die einzelnen Ausrufe deutlich voneinander unterscheiden. Er trat aus der Tannenschonung heraus und beobachtete die Jungen, die mit lärmender Begeisterung eine Schlitterbahn vom Ufer aufs Eis hinaus glätteten.

Am lautesten von allen - wie konnte es anders sein - war Robert, der unumstrittene Herrscher in der Klasse. Amadeus erkannte ihn sofort an seiner roten Strickmütze. Während die anderen in ständig neuem Anlauf die Bahn verlängerten, stand Robert nur herum und erteilte Befehle. Sie zu befolgen schien für alle selbstverständlich zu sein. Amadeus fürchtete Robert nicht. Aber er konnte nicht vergessen, daß er durch ihn zum Außenseiter geworden war. Es war gleich am ersten Tag geschehen, als er nach dem Wohnungswechsel seiner Eltern in die neue Schule kam.

Arglos hatte er auf die Frage des Klassenlehrers
seinen Namen genannt: Amadeus Kerglich.

Nie zuvor war er auf den Gedanken gekommen, daß die Zusammensetzung seines Vor- und Zunamens ungewöhnlich oder gar lächerlich klingen könnte. Deshalb verwirrte ihn die Situation, die gleich darauf in der Klasse einsetzte. Nach einer halblauten Bemerkung Roberts brach schallendes Gelächter aus, das erst durch ein energisches Wort des Lehrers erstarb.

Die mühsam unterdrückte Heiterkeit schwächte sich auch kaum ab, als Amadeus seinen Nachnamen buchstabierte, wobei sich erwies, daß er nicht - wie dem Anschein nach zu vermuten war - mit "ä" geschrieben wurde. Der allgemeine Spott hatte sein Opfer gefunden, und Robert sorgte dafür, daß er ihm auch weiterhin anhaftete. Amadeus war nicht rücksichtslos genug, um sich auf die gleiche Art dagegen zur Wehr zu setzen. Und da es ihm auch an der derben Schlagfertigkeit mangelte, die den Umgangston in der Klasse bestimmte, zog er sich von den anderen zurück.

Diese schweigende Abkehr wurde prompt als Herausforderung angesehen. Besonders Robert nutzte jede Gelegenheit, dem Außenseiter seine Stärke zu zeigen. Er schüchterte ihn damit zwar nicht ein, doch hütete Amadeus sich davor, bei irgendeiner Gelegenheit auffällig in Erscheinung zu treten.

Die Schlitterbahn auf der Eisfläche des Sees ging ihrer Vollendung entgegen. Wie gern wäre Amadeus bei dem nun beginnenden Wettkampf dabei gewesen. Doch er wagte es nicht, den Hügel hinunter zu gehen, weil er sich aus dem Kreis der anderen ausgeschlossen fühlte.

Die Jungen versammelten sich am Ufer, nahmen einen Anlauf und sausten nacheinander die glatte Schneise entlang. Jeder versuchte, die weiteste Entfernung zurückzulegen. Jedoch blieben nur wenige erfolgreich, die allmählich ihre Leistungen steigerten. Der Tannenzweig, der die jeweilige Rekordmarke bezeichnete, wanderte immer weiter auf den See hinaus.

Robert hatte sich an der Vorentscheidung nicht beteiligt. Er ging erst an den Start, als die Zielmarke längere Zeit nicht mehr verändert worden war. Er konzentrierte sich, stürmte über den festgetretenen Schnee und sprang mit einem Satz auf die Schlitterbahn. Tief in die Hocke gekauert, beschleunigte er noch das Tempo. Unter den anfeuernden Rufen seiner Freunde glitt er weit über die Markierung hinaus. Er blieb stehen und reckte triumphierend die Hände. Im selben Moment war ein unheimliches Knistern zu vernehmen. Dumpfes Krachen schien aus der Tiefe des Sees aufzusteigen. Das Beifallsgeschrei verstummte. Ein entsetzter Ausruf ertönte: "Das Eis bricht!"

Lange Risse gingen von der Stelle aus, an der Robert noch immer bewegungslos verharrte. Er war vor Schreck wie gelähmt. Dann versuchte er, durch einen weiten Schritt dem unmittelbaren Gefahrenbereich zu entkommen. Doch es war zu spät. Mit durchdringendem Knirschen weiteten sich die Risse aus. Das Eis unter Roberts Füßen senkte sich und klaffte in der Mitte auseinander. Auf der schrägen Fläche verlor er den Halt und versank im aufspritzenden Wasser. Verzweifelt klammerte er sich an den Rand des Eises. Es hielt der Belastung nicht stand und splitterte ab. In panischer Furcht flüchteten die Jungen ans Ufer und liefen kopflos herum. Einige riefen um Hilfe. Die anderen starrten tatenlos aufs Eis hinaus. Sie sahen, daß Robert um sein Leben kämpfte, aber sie unternahmen keinen Versuch, ihm zu helfen.

Plötzlich tauchte Amadeus im allgemeinen Durcheinander am Ufer auf. Er riß seine Jacke herunter und betrat vorsichtig die Eisfläche. Fassungslos blickten ihm die anderen nach. In einiger Entfernung der Unglücksstelle warf Amadeus sich hin. Die Jacke vor sich herschiebend, näherte er sich Robert.

Er bemerkte, daß dessen erstarrte Hände keinen Halt mehr am Eis fanden und sah die weit geöffneten Augen, die in Todesangst und Hoffnung auf ihn gerichtet waren. Langsam bewegte Amadeus sich vorwärts.

Die Eisdecke unter ihm schwankte. Er zögerte sekundenlang - dann tastete er sich weiter. Als ihn nur noch etwa zwei Meter von Robert trennten, warf er ihm seine Jacke zu, die er an einem Ärmel festhielt. Robert ergriff den anderen Ärmel. Doch als Amadeus anzog, brach erneut ein Stück vom Eisrand ab. Dennoch unternahm er einen zweiten Versuch. Es gelang ihm, Robert halb aus dem Wasser zu ziehen. Dann aber erlahmten seine Kräfte.

Endlich hatte ein anderer Junge Mut gefaßt und kam Amadeus zu Hilfe. Gemeinsam konnten sie den Verunglückten bergen. Sie brachten ihn ans Ufer zurück und hüllten ihn in einen Mantel ein.

Erst jetzt wurde Amadeus bewußt, was er gewagt hatte. Ohne zu zögern, war er seinem Impuls gefolgt, einen Menschen aus höchster Gefahr zu retten. Nun jedoch fühlte er sich unsicher und wäre am liebsten davongelaufen.

Da trat Robert auf ihn zu. Sein Dank bestand aus einem einzigen Satz: "Das werde ich dir nie vergessen - Amadeus!" Und der Tonfall, mit dem er den Namen aussprach, hatte nichts mehr vom Spott vergangener Zeit. Sein fester Händedruck bat um Verzeihung. "Ich hoffe, daß wir Freunde werden", sagte er. Amadeus nickte nur. Er hatte die erste, entscheidende Prüfung seines Lebens bestanden.

 
     
     
 
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