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(OB): Herr Staatspräsident Meri, anläßlich Ihrer Berliner Rede zum fünften Jahrestag der deutschen Einigung prägten Sie 1995 das Wort von der "Canossa-Republik Deutschland". Einem Land, daß sich derart in intellektueller Selbstgeißelung erginge, könne man selbst als Freund der Deutschen kaum trauen.BdV-Präsidentin Erika Steinbach sieht gerade anhand des Umgangs mit den Vertriebenen Anlaß dazu, etwas mehr Fairneß
in der Haltung der Deutschen zu sich selbst und zu ihrer Geschichte zu erblicken. Teilen Sie diesen – vorsichtigen – Optimismus?

Lennart Meri: Ein Beispiel: Der Entschluß zum Einsatz deutscher Truppen zur Verteidigung der Menschenrechte auf dem Balkan war der einzig richtige. Deutschland hat Pflichten gegenüber Europa. Es kann sich nicht immer weiter hinter seinen Komplexen verstecken. Natürlich habe ich Verständnis für das "Nie wieder", das so viele qualvolle Debatten in Deutschland beherrscht. Doch dies darf sich nur gegen das gerade von den Deutschen verhaßte Hitlerregime richten, nicht gegen Europa. Hier möchte ich ein Deutschland, das seinen Platz einnimmt.

Das Königsberger Gebiet ist ein regelrechtes Notstandsgebiet geworden. Manche russischen Königsberger träumen nicht zuletzt deshalb von einer Autonomie des Gebiets, gleichsam als vierte baltische Republik. Welche Initiativen erwarten Sie von der Bundesrepublik Deutschland?

Meri: Das ist zunächst natürlich ein ausschließliches Problem der Russischen Föderation. Indes, Finnland unterhält ausgezeichnete Beziehungen zur Region von St. Petersburg. Eine solche, vor allem regionale Zusammenarbeit kann auch Vorbild sein für das ehemalige Königsberg.

Die sowjetische Russifizierungspolitik hat Estland eine zahlenmäßig starke russische Minderheit beschert. Wie hat sich in den vergangenen zehn Jahren das Verhältnis zwischen Esten und Russen in Ihrem Land entwickelt? Besteht die Gefahr, daß Moskau die russische Minderheit gegen den estnischen Staat instrumentalisiert?

Meri: Wir haben das Problem bewältigt. Die Russen fühlen sich ganz wohl bei uns. Gerade die junge Generation teilt vor allem die moralischen Grundsätze Europas. Die Vorbehalte der Älteren hingegen kann ich verstehen: Manche befürchteten, daß ihnen nun das gleiche widerfahren könnte, was die Russen den Esten angetan haben. Doch auch sie sehen jetzt, daß ihre Angst unbegründet war. Auch hier lebende höhere sowjetische Offiziere waren von der Unabhängigkeit Estlands verständlicherweise nicht begeistert. Aber das ist eine kleine Minderheit. Extreme Parteien versuchen noch, die russische Minderheit zu instrumentalisieren, dies jedoch mit sichtbar abnehmendem Widerhall.

Sie haben als erstes Staatsoberhaupt eines ostmitteleuropäischen ...

Meri: Verzeihung, Estland gehört nicht zu "Ost"-Mitteleuropa, sondern schlicht zu Mitteleuropa.

Hierzulande hat man es sogar fertiggebracht,  Eisenach sprachlich nach Ostdeutschland zu verpflanzen. Da geht alles durcheinander.

Meri: (lacht)

Also ganz wie sie wünschen: Sie haben als erstes Staatsoberhaupt eines mitteleuropäischen Staates die Deutschen dazu aufgerufen, von ihrem Heimatrecht Gebrauch zu machen; und Estland hatte begonnen, das von den Kommunisten konfiszierte Eigentum der Nachumsiedler zurückzuerstatten. Kurz vor den vergangenen Parlamentswahlen versuchte die damalige Parlamentsmehrheit, diese Rückgabe wieder rückgängig zu machen. Der neue Ministerpräsident Mart Laar hat öffentlich erklärt, daß dies nicht seine Politik sei. Wie wird es nun in dieser Frage weitergehen?

Meri: Ganz einfach: Es geht um die Identität Estlands. Wir vertreten das Prinzip der Kontinuität. Ein Volk kann seine Selbstbestimmung immer nur einmal in Anspruch nehmen. Das haben wir am 24. Februar 1918 getan und die Unabhängigkeitserklärung an alle Völker Estlands gerichtet. Zwischenzeitlich ruhte der estnische Rechtsstaat lediglich, ist nicht erloschen. Also können wir auch die persönlichen Rechte von Bürgern nicht mit dem Argument angreifen, sie seien durch die Sowjet-Ära verwirkt. Sie sind es ebensowenig wie das 1918 proklamierte Recht auf nationale Selbstbestimmung.

Gibt es estnischerseits noch Probleme, die dem Abschluß eines Grenzvertrages mit Rußland im Wege stehen?

Meri: Keine.

Warum zögert Rußland Ihrer Meinung nach noch immer mit der Unterschrift?

Meri: Wissen Sie, in Rußland stehen Wahlen an, und ein solcher Vertrag ist bei vielen Russen nicht eben populär. Dafür habe ich Verständnis. Und eigentlich interessiert mich die Unterschrift auch nicht wirklich. Unsere Grenze ist moderner ausgebaut als – ich glaube sogar die deutsche. Sie ist ein Faktum.

Halten Sie langfristig trotz gewisser Reibungen mit Moskau eine Brückenfuntion Estlands zwischen der EU und Rußland für möglich?

Meri: Ja selbstverständlich. Ich gehe ohnedies davon aus, daß das nächste Jahrhundert das Jahrhundert Rußlands wird, trotz aller Schwierigkeiten. Wir werden ein glänzendes Rußland sehen. Natürlich gibt es einen Unterschied gerade zu Ländern wie Estland: Wir haben lediglich die Unterbrechung unseres Rechtsstaats zu bewältigen. In Rußland entsteht hingegen erstmals in der Geschichte ein Rechtsstaat. Auch verhält sich ein so großer Staat wie ein Supertanker – er läßt sich nur schwer und langsam auf einen neuen Kurs bringen. Ein kleiner Staat wie Estland ist da vergleichsweise beweglich wie ein Eskimo-Kajak.

Was ist Ihr größter Wunsch, wenn Sie an die deutsch-estnischen Beziehungen denken?

Meri: Ich möchte gern mehr deutsche Schulen in Estland. Das hat auch einen ganz praktischen Grund: 80 bis 85 Prozent unserer historischen Quellen sind auf deutsch, sprich niederdeutsch verfaßt. Unsere Ostsee wird zum Binnensee der EU, und der Süden der Ostsee ist ja eigentlich ein deutsches Küstengewässer. Kürzlich erst habe ich mit dem damaligen Präsidenten Herzog 750 Jahre Lübisches Recht in Reval gefeiert. Damals überwanden die Händler von Deutschland zu uns für ihre Zeit enorme Strecken. Jetzt ist es nur noch ein kurzer Weg. Die Geschichte wird sich immer der Zeit anpassen.

Mit Staatspräsident Lennart Meri sprach Elisa Wachtner.

 
     
     
 
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