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Brüssler Lektion

 
     
 
Nun also ist das Kind im Brunnen: Die EU-Kommission hat Polen fast 70 Millionen Mark an Zuschüssen gestrichen. Einige von Warschaus Projekten entsprächen nicht den Prioritäten der EU-Förderung, andere seien zu allgemein formuliert gewesen oder hätten – besonders peinlich – den buchhalterischen Erfordernissen nicht genügt.

In Warschau spielt man jetzt Schwarzer Peter. Und in der Tat ist sich die Presse an der Weichsel einig; Köpfe sollen rollen für die kostspielige Blamage
. Indessen haben sich Polens Regierungskoalitionäre hierob auf einen armen Teufel aus der dritten Reihe geeinigt. Ein 33jähriger Staatssekretär muß gehen, als hätte der das Desaster allein verschulden können.

Der Hieb aus Brüssel war sachlich gesehen absehbar. Doch nun hat er Polens Regierende offenbar doch recht unerwartet getroffen. Man hatte sich womöglich an eine Sonderbehandlung gewöhnt und ist überrascht, daß die nun so schmerzhaft ausbleibt. Was ist hier geschehen?

Rückblende, Mitteleuropa 1989/90: Im Getöse des Mauerfalls und der politischen Umbrüche mischen sich in den westeuropäischen Metropolen schaurige Visionen in die nur sehr vordergründig zur Schau getragene Begeisterung. Deutschland ist wieder da! Englands Premierministerin Margaret Thatcher plagen düsterste Vorahnungen. Sie sieht die Deutschen sich nicht nur wiedervereinigen in ihren Vorkriegsgrenzen, gleichzeitig scheint es ihr nahezu ausgemacht, daß die Teutonen im selben Zuge auch gleich ganz Polen, die Tschechoslowakei, Österreich und die Götter wissen was noch alles mit hinunterschlucken werden. Derweil rennt sich ihr französischer Verbündeter François Mitterrand von Ost-Berlin bis Kiew die Hacken ab, um zu verhindern, was längst seinen Lauf nimmt.

Als das alles nichts Greifbares brachte, war klar: Jetzt kommt es auf Polen an! Warschau muß der Stachel im Fleische Neogermaniens werden. Die Polen hörten´s wohl. Getrieben von Furcht und Verachtung dem russischen Bären gegenüber und wie besessen von dem Gedanken, die Deutschen könnten sich an das Völkerrecht erinnern und fordern, was demzufolge recht und billig ist, klammerte sie sich bereitwillig an die Handreichungen von Seine und Themse. Eine wohlwollende Sonderbehandlung schien ihnen so gut wie sicher.

Indes, Warschau hätte die Grundlinien der englischen und französischen Außenpolitik besser studieren sollen. Die sind ausschließlich national ausgerichtet, man kennt keine "dauerhaften Freunde, sondern nur dauerhafte Interessen".

Spätestens jetzt, da Deutschland mit der Mark einer seiner gewichtigsten Machtfaktoren beraubt ist, da eine francophon dominierte Eurobürokratie auch den mächtigsten Staat Mitteleuropas weitgehend beherrscht und der einstige Schrittmacher in reformunfähiger Erstarrung zu verharren scheint, hat Polen an Attraktivität schwer eingebüßt. Mehr noch wird die Aufnahme Polens in die EU deren geographischen Mittelpunkt nach Deutschland verschieben, was insbesondere in Paris niemand bejubelt.

Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan? Das klingt wie blanker Zynismus, und zu kindischer Schadenfreude sollten sich Deutsche nicht hinreißen lassen. Ein jedes Ding hat zwei Seiten. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre mit ihrem jüngsten Höhepunkt können für Polen eine heilsame Lektion in gleich zweierlei Hinsicht bedeuten. Zunächst einmal die, daß kurzfristige konjunkturelle Aufschwünge noch nicht die lange nicht abgeschlossene, grundlegende Strukturreform ersetzen; die Lobgesänge vom "Musterknaben" sind so schnell verhallt wie einst angestimmt.

Zum anderen wird die Zahl derer in Warschau wachsen, die erkennen, daß man einem ehrlichen wie gerechten Ausgleich mit den Deutschen nicht dadurch ausweichen kann, indem man sich in Paris oder London rückversichert. Das dortige Interesse an Polen ist – das hätte man nach den Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte eigentlich wissen können – rein instrumentell und nur an der Oberfläche herzlich.

Um nachhaltig Anschluß an Europa zu finden, gibt es für Polen keine Umleitung am deutschen Nachbarn vorbei. Und im Verhältnis mit ihm kann man das Schicksal der Vertriebenen nicht länger als Leiche im Keller verstauen. Daß sie Polen nicht bedrohen, keine "zweite Vertreibung" anzetteln wollen, haben die Vertriebenen und ihre Fürsprecher nun oft genug erklärt und in unzähligen persönlichen Kontakten in ihre Heimat unter Beweis gestellt. Es ist an der Zeit, sie, die im Gegensatz zu den Strategen von London, Paris oder Brüssel sehr wohl auch eine tiefe emotionale Bindung zum Land hinter Oder und Neiße aufweisen, in ihrer Brückenfunktion wahrzunehmen.

 
 
     
     
 
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