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Der Sängerinnenkrieg von Bixendorf

 
     
 
Gewiß, es war nicht besonders viel, was Bixendorf in den Augen der nächstgelegenen Kleinstadt oder gar in denen der großen weiten Welt hätte auszeichnen können. Der auf den ersten Blick recht romantische Dorfteich war sommertags über ein Dorado für Mücken, nachts ein Tummelplatz für Heere von Quakfroschsolisten und winters ein einziges Krähenfeld, das sich nicht einmal von eifrigen Schlittschuhkufen umpflügen ließ.

Der alte Lindenbaum auf dem Dorfplatz setzte außen langsam aber sicher eine Glatze an, und innen war er hohl. Und selbst mit dem Alter der kleinen Kirche konnte man keinen Staat machen, es sei denn, man hätte dem Runzelgesicht neues Weiß und Braun und vielleicht sogar ein paar Goldtupfen auf der Turmspitze und Himmelsblau und Herrscherpurpur über dem Portal aufgelegt.

Aber immerhin: Die Gärten vor den Häusern, von der Kirche nach allen Himmelsrichtungen bis in die Felder hineinspringend, strahlten zu jeder Jahreszeit mit dem herrlichsten Schmuck und wurden nicht müde, sich in allen blanken Augen und Fensterscheiben zu spiegeln. Und der Gasthof, war er nicht einen Sitzplatz wert, zumal man bei ihm das Bier sozusagen von der vor der Dorftür gelegenen Brauerei
direkt abzapfen konnte?

Aber eine echte Berühmtheit, zu der nicht nur ein paar Neugierige aus der nächsten, sondern auch eine Menge Eingeweihter aus der weiteren Umgebung herzuströmten, das war der Kirchenchor. Der alte Lehrer Kaderer hatte ihn wahrhaft mühsam zusammengebunden, wie man vielleicht dornige Rosen zu einer köstlichen Pforte biegt und bindet. Man munkelte, daß der Lehrer einmal ein großer Komponist hatte werden wollen. Nun war also der Dorfchor seine schönste Komposition geworden. Und die Anneke war darin Piano und Fortissimo in einem.

Nein, schön war Anneke nicht. "Sie sieht aus" - so hatte es eine gar nicht bösartige Stimme aus dem Publikum geradezu enthusiastisch versichert - "wie eine bissige Bulldogge, aber singen kann sie wie ein vom Himmel gefallener Engel". Das war es.

Und weil es so war, nutzte man diesen gefallenen Engel aus, wie es nur ging. Es war kein richtiger Kirchensonntag, wenn Anneke nicht zwischen Predigt und Gebet und möglichst noch ein zweites Mal vor dem Segen sang. Und weil man von Kirchen-, Schul- und Gemeindekasse her nicht einsehen konnte, warum man so ein Gottesgeschenk nicht auch zum weiteren Wohle ausnutzen sollte, richtete man die Kirchenkonzerte ein. Erst waren es zwei im Jahr, dann drei und vier. Und als Bixendorf damit seine Berühmtheit erlangt hatte, hätte man am liebsten jeden Monat zur Konzertkasse gebeten.

Der Anneke wäre es gewiß recht gewesen, aber der Chor hatte nur die Achseln gezuckt und gemeint, daß ja die Felder mit ihrer Arbeit auch noch ein Tönchen mitzusingen hätten, die Schweine das Ferkeln und die Kühe das Kalben sich nicht abgewöhnen dürften und Besen, Forken, Schlittenkufen und Pferderiemen durchaus auch einmal neuer Eigenkompositionen wert wären. So blieben denn die Konzerte das, was sie waren: Ereignisse.

Wenn diese Ereignisse je übertrumpft werden konnten, so nur durch allerhöchste Besucher. Eben diese hatten sich nun zum nächstgeplanten Konzert angemeldet. Und das wiederum hatte die Dorfoberen so erschreckt, daß von allerhöchsten Gedanken zum Konzert nur dieser eine übriggeblieben war: Wir können den allerhöchsten Herrschaften doch nicht ein solches Anneke-Gesicht präsentieren, und produziere es noch so himmlische Töne. Also beschloß man eiligst und zunächst heimlich, sich für das allerhöchste Konzert eine wohlbekannte, wenn auch nicht gerade kostenlose Sängerin aus der Stadt zu verschreiben.

Dieses Geheimnis der Dorfoberen blieb nicht lange geheim. Und wenn Anneke selber auch nichts dagegen hatte, einmal ein schönes Konzert als stille Zuhörerin zu erleben, so hatte der empörte Chor mitsamt dem dazugehörenden Dorf entschieden alles dagegen. Doch das und seine Maßnahmen blieben vorerst den Dorfoberen verborgen.

Die Konzertproben gediehen überaus eilig und eifrig und unter eiserner Hintenansetzung aller sonstigen Pflichten in Haus und Hof bis zu jenem Tag, da die städtische Primadonna und mit ihr zugleich der höchstherrschaftliche Konzerttag mit seinen zu erwartenden besonderen Gnadenerweisen ins Dorf brachen.

Artig begrüßte der Chor die gar nicht primadonnahafte Sängerin aus der Stadt zur letzten entscheidenden Probe. Und fast tat es ihm leid, sich gegen sie entschieden zu haben. Aber es ging um Anneke, und damit erledigten sich aufkommenden Bedenken von selbst. Die Probe begann. Die Sängerin bat, sich einsingen zu dürfen. Das war dem Chor nur eben recht. Er setzte sich artig zu ihren Füßen in die vordersten Kirchenbänke.

Oder doch nicht gar so artig? Erst war es eine halbiert Zitrone, die scheinbar absichtslos in der Hand eines Chormitgliedes erschien und mit einem herzhaften Biß bedacht wurde, dann noch eine zweite, eine dritte, noch eine und noch eine.

Groß wurden die Augen der Sängerin, immer größer. Doch nicht nur ihre Augen, sondern auch die in ihrem Mund zusammenlaufenden Wasser. Tapfer schluckte und schluckte sie, aber es nutzte nicht viel, ihren Lippen entrang sich kein klarer Sangeston mehr, nur noch ein unbestimmtöniges Gurgeln.

Erschrocken und fragend zugleich wurden die eben noch bewundernden Blicke des alten Lehrers und seiner obrigkeitlichen Begleiter. Stumm konnte die Sängerin nur auf den zitronenschlürfenden Chor weisen.

"Zitronen!" fauchte der alte Kaderer, der als erster die Zusammenhänge begriff. "Man kann doch jetzt nicht in Zitronen beißen!"

"Wir schon. Das ist gut für unsere Stimmen. Außerdem ist es gut gegen Erkältung. Und wir müssen uns doch bis wenigstens nach dem Konzert gegen alle umschwirrenden Erkältungen schützen."

"Aber doch nicht jetzt! Dabei kann doch niemand singen!"

"Anneke schon. Anneke kann immer singen. Los, Anneke, sing!"

Und Anneke - wenn auch unwissend, was ihr geschah - Anneke sang. Diesmal nicht wie ein vom Himmel gefallener Engel, sondern wie einer, der im siebenten Himmel schwebt.

Die Sängerin vergaß das Schluckenmüssen, aber ihre Augen wurden womöglich noch größer. Erst schüttelte sie nur scheinbar fassungslos den Kopf, dann nickte sie, und dann ging sie langsam, aber mit bedachten Schritten aus der Kirche.

Und so kam es denn, daß nun doch der Anneke das huldvolle Händeschütteln der hochherrschaftlichen Konzertgäste zuteil wurde, dazu viele schöne Worte um Goldkehlen und Silbertöne. Von ihrem Gesicht sprach niemand. So waren es denn am Ende endlich auch die Dorfoberen zufrieden.

Merkwürdig hartnäckig hielt sich lange nach diesem denkwürdigen Sängerinnenkrieg zu Bixendorf das Gerücht, daß die Primadonna mit dem Dorfkirchenchor gemeinsame Sache gemacht habe. Primadonnen sind ja zu allen Unmöglichkeiten fähig, wie man es ihnen so nachsagt. Warum also nicht auch zu einem Verzicht für Anneke.
 
     
     
 
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