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Der verkehrte Glaube

 
     
 
Ich habe noch nicht einmal mein Testament gemacht." Lutz Berger rieb verzweifelt die Hände, "und eine Patientenverfügung auch nicht."

"Red keinen Unsinn, Lutz!" Marlene, seine Frau, strich dem Kranken beruhigend über die Wange. "Du wirst sehen, nach der Operation bist du wieder richtig fit. Dann fahren wir an die See und erholen uns. Danach kannst du dir Gedanken über Testament und Patientenverfügung und solche Dinge machen."

Ihr Mann lächelte gequält. "Ich werde schon morgen operiert. Der Chefarzt teilte es mir eben mit." - "Na und? Dann hast du es bald hinter dir", sagte Marlene und schenkte ihm ein optimistisches Lächeln.

"Eben", war die kurze Antwort auf ihren ungewollt zweideutigen Satz. Jetzt regte sie sich auf: "An einer Blinddarmoperation muß man doch nicht sterben."

"Ich schon", sagte Lutz Berger leise, "morgen ist nämlich Freitag."

"Na und", fragte sie noch einmal, "was ist so schlimm daran?"

Der Kranke seufzte. "Morgen ist Freitag, der 13., und diesen Tag werde ich nicht überleben!"

Seine Frau hielt den Atem an. Oje, das war allerdings schlimm. Sie wußte ja, wie abergläubisch ihr Mann war. Wie oft hatte sie schon erlebt, daß er wieder ins Haus zurückging, wenn ihm eine schwarze Katze von links nach rechts über den Weg gelaufen war. Bei jedem Unwetter klopfte er auf Holz. Er glaubte sogar an Vampire, die auf das Blut der Menschen aus sind und seiner Ansicht nach auf Friedhöfen
hausten. Daß er nun ausgerechnet morgen operiert werden sollte, war eine Katastrophe. Wie sollte sie die verhindern? Aber wenn man beim Chefarzt auf der Operationsliste stand, war nichts mehr zu ändern, das wußte sie aus eigener Erfahrung.

Dennoch versuchte sie ihm die Angst auszureden: "Einer meiner Schulkameraden hat mal an einem solchen Freitag eine schwierige Bergtour gewagt", sie lachte aufmunternd, "und was ist passiert? Gar nichts! Putzmunter trank er abends mit seinem Bergführer einen Wein." Sie sagte noch viel an diesem Abend, merkte aber, daß sie ihren Mann nicht überzeugen konnte. Als sie ging, waren seine Augen naß, und er drückte sie an sich, als ob dies ein Abschied für immer sei.

Am nächsten Tag stand sie schon früh vor dem Krankenzimmer. Ihr Mann wurde gerade herausgefahren. Sie drückte ihm die Hände. "Viel Glück, Lutz!" Sein verzweifelter Blick traf sie tief. "Wird schon, Frau Berger!" Eine der beiden Schwestern zwinkerte ihr zu. "So ein Appendix ist wirklich nicht die Welt."

Unruhig ging sie auf den Gang, nahm sich eine der herumliegenden Zeitschriften und setzte sich auf das Besuchersofa. Aber die Zeilen verschwammen vor ihren Augen. "Vater unser ...", betete sie und wußte plötzlich nicht weiter.

Es war nicht einmal eine halbe Stunde vergangen, als Dr. Brunner schon wieder vor ihr stand. Sie sprang auf. Ihr Herz machte ein paar schnelle Sprünge, denn der Arzt sah sehr ernst aus. Offensichtlich suchte er nach Worten, schließlich sagte er schnell: "Es tut mir leid, Frau Berger, Ihr Mann ist ..." Wieder hielt er inne, hustete, sprach leise weiter: "Er ist schon bei der Vorbereitung zur Operation verstorben. Wir wollten gerade beginnen, da sahen wir, daß er tot war. Sein Herz hat versagt. Es war ein großer Schock für uns."

Sie atmete tief durch. "Ich kenne den Grund, Herr Doktor", sagte sie, "heute ist Freitag, der 13., und mein Mann war abergläubisch. Er war der abergläubischste Mensch, den ich kenne. Gestern redete er nur noch von seinem bevorstehenden Tod." Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.

"Wenn ich das nur gewußt hätte", sagte der Arzt und schüttelte immer wieder den Kopf. "Warum haben Sie denn kein Wort gesagt?" Sie schneuzte sich. "Ja, hätten Sie die Operation dann verschoben?" - "Aber sicher!" Der Arzt strich sich über die Stirn, die vor Schweiß glänzte. "Wir wissen doch, daß Körper und Seele zusammen gehören, und daß ein Kranker fest an seine Genesung glauben muß. In dieser Klinik nimmt man Rücksicht darauf."

Langsam ging sie zu ihrem Auto zurück. "Tiefer Glaube kann Berge versetzen, Lutz", sagte sie, als sei ihr Mann noch bei ihr, "aber du hattest den verkehrten Glauben. Du hättest noch nicht sterben müssen."

 
     
     
 
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