A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Die Abstammungsgeschichte des Menschen

 
     
 
Bei der Behandlung der allgemeinen Phylogenetik ist über die Begründung einer Phylogenetik des Menschen schon einiges gesagt worden. Wir können dort anschließen und müssen zunächst nochmals ausdrücklich hervorheben, daß auch hier Darwin recht gehabt hat ; denn die Phylogenie des Menschen, sein realhistorisches Hervortreten aus dem Tierreich, das Abspalten eines zuletzt zum Gegenwartsmenschen führenden Stammes aus den höheren Primaten ist wie Ernst H a e c lc e1 es schon vor 6o Jahren einmal treffend formulierte »keine Hypothese mehr, sondern eine Tatsache«.

Es ist zunächst notwendig, eine brauchbare Einteilung des Evolutionsweges des Menschenstammes seit seiner Isolierung von einem ancient member , einem a l t e n Gliede der Menschenaffengruppe, zu geben. Die Hominiden bilden seit dem Zeitpunkt ihrer Loslösung von einem nichthominiden Vorfahren eine eigene Familie im Sinne der zoologischen Systematik und eine eigene Geschichtslinie. Über die Zugehörigkeit der Hominiden zu den plazentalen Säugetieren braucht ebensowenig gesprochen zu werden, wie über die Zugehörigkeit der nichthominiden Primaten zu dieser Klasse. Allein die B au t y p i k ihrer Chromosomensätze (nicht der Zahl!) entspricht eindeutig der der plazentalen Säugetiere. Es ist auch unnötig, die große Menge der Indizien zusammenzustellen, die die Hominiden den Primaten anschließen und innerhalb dieser an die K a t a r r h i n e n (Primaten), an die Affen der Alten Welt (Pithecoidea).

Besteht hier also über die Katarrhinen-Natur der Hominiden, d. h. zugleich über die his torischeHerkunft aus einer KatarrhinenWurzel, kein Zweifel ernsthafter Art, so ist es schon schwieriger, ein Urteil über den phylogenetischen Ort, d. h. den Ansatz der Geschichtslinie der Hominiden zu bekommen. Das bedeutet aber zugleich, daß die Frage nach dem speziellen Bautypus der frühesten Vertreter der Hominidengruppe sehr prekär ist. Die formale und kausale Erforschung der Wandlungen, die seit ihrer phyletischen Selbständigkeit durchlaufen worden sind, bildet den Inhalt der menschlichen Abstammungslehre.

Wir hatten schon im letzten Abschnitt darauf hingewiesen, daß Darwin (1870 bzw. 1874) von einem ancient member gesprochen hatte, das er in die Menschenaffengruppe (Pongidae, Primaten) stellte. Man muß dazu bemerken, daß die große Mehrzahl der Anthropologen, die sich mit der Erforschung des phylogenetischen Weges der Hominidae näher befaßt haben, auch meist in Betracht zogen, daß der A n z e s t o r der Hominiden, ihre phylogenetische Ahnform, natürlich nur ein solches ancientmember gewesen sein kann. Selbst ausgesprochene Vertreter der Schimpansentheorie haben darauf hingewiesen, daß die Pongiden eine lange Geschichte hinter sich haben und im Laufe dieser Geschichte natürlich Wandlungen verschiedenen Ausmaßes durchmach ten, bis der heutige spezialisierte Ponginentypus erreicht worden ist. Darüber herrscht also zur Zeit eine recht einheitliche Meinung. Im Gegensatz dazu steht das Bild, das man sich von der Struktur der anzestralen Ausgangsbasis selber macht. Es ist alles andere als einheitlich!

Als Grundlage für eine eindeutige Gliederung der Phylogenie der gesamten Hominoidea (Pongidae und Hominidac, Primaten) betrachten wir ein geochronologisches Schema des Tertiäres, denn eine ältere Ara kommt für die phylogenetische Verselbständigung der beiden Zweige der Hominoidea nicht in Betracht, erst recht nicht das folgende Pleistozän (Eiszeit), wie man früher wohl gelegentlich geglaubt hat.

Der kritische Zeitraum umfaßt Oligozän bis Miozän, also eine Spanne von 40 Millionen Jahren! Wie die Phylogenie der Hominoidea in erster Näherung in diesem Zeitrahmen etwa eingegliedert werden könnte, wird in x vorgeführt. Wir sehen, wie die Hominidenlinie nach rückwärts in der miozänen Pongidenradiation als einer der Zweige einmündet. Diese Linie können wir in drei Abschnitte gliedern:

1. Subhumane Phase

2. Tier-Mensch-Übergangsfeld (TMÜ)

3. Humane Phase

In der ersten Phase besitzen die Hominiden noch einen s ub -humanen Status, d. h. sie sind physisch und entsprechend auch psychisch durchaus tierische Wesen, die dann im Verlaufe der ersten Phase bedeutsamen Veränderungen unterliegen, über die noch zu sprechen sein wird. Jetzt mag nur erst der Hinweis auf das wichtigste Ereignis gegeben sein: die Erwerbung des aufrechtenecht Gange s (B i p e d i e) und damit das Vermögen einer Lokomotion allein mit den unteren Extremitäten in ausreichender Geschwindigkeit (Rennen ).

In der zweiten Phase (TMU) erreichen die subhumanen Hominiden ein Niveau, das der Ausgangspunkt der humanen Hominiden ist. Sie vermittelt also den Übergang von der subhumanen zur humanen Phase. Es ist äußerst schwierig, wie sich zeigen wird, einen Fund in diese zweite Phase zu stellen. Für die erste und dritte Phase ist es nicht problematisch, wenn Funde vorliegen, zu bestimmen, ob sie noch subhuman oder schon human sind. Das Tier-MenschÜbergangsfeld ist nach unten und oben natürlich nichtscharf begrenzt, doch ist die geochronologische Lage ziemlich gesichert, ja eigentlich kaum ernsthaft diskutabel. Das Feld liegt im oberen Pliozän, nicht später, wohl kaum früher. Die humane Phase ist durch physische Wandlungen ausgezeichnet, die sich besonders auch psychisch manifestieren.

Es sind besonders zwei Phänomene zu betrachten: starke adaptive Radiation und progressive Cerebralisation in den radiierenden Stammeslinien. Ein komplexes und auch rhythmisches Geschehen. Die genannte psychische Manifestierung besteht in der progressiven Schaffung der Kultur. In der ersten und zweiten Phase erfolgt in einer Generationenkette, die größenordnungsmüßig und sehr vorsichtig gerechnet 400 00o Generationen umfaßt hat, die psychophysische Hominisation oder Menschwerdung (V a l f o i s,1958), nach der Hominisation beginnt die euhominine Evolutionsphase der Menschheit.

Nachdem wir ein Schema der allgemeinen Gliederung der Hominidenphylogenie gewonnen haben, soll nun der Versuch gemacht werden, an Hand des zweiten Schemas (2) die Problematik des zuerst gegebenen Schemas genauer zu differenzieren und die zur Zeit diskutablen Hypothesen gegeneinander abzuwägen. Wir können rechts neben der Zeitskala (links im Schema) die evolutiven Stufen erkennen, die die Pongiden während ihrer Phylogenie durchlaufen haben. Die Pongiden bilden sich im Pliozdn zu typischen Hangel- und Schwingkletterern aus, wie sie durch die rezenten Ponginen und die Gibbons (Hylobatiden) noch heute vorhanden sind. Durch die hauptsächlich mit den Armen erfolgende Fortbewegung in den Bäumen hat sich die Bezeichnung ,Brachiator(eingebürgert. Bei typischer Ausbildung dieser Adaptation spricht man von strukturellen oder spezialisierten Brachiatoren. Während aber die rezenten Ponginen sämtlich eine vollbrachiatorische Differenzierung besitzen, dürfte das für die weitverbreitete und komplexe Gruppe der untermiozänen bis unterpliozänen PongidenUnterfamilie der Dryopithecinae kaum anzunehmen sein. Sehr wahrscheinlich waren es noch überwiegend präbrachiatorische Typen, wie es für die noch primitiveren Proconsulinae gilt. Wir dürfen diese Gruppe als fakultative oder generalisierte Hangeier (N a p i e r, 1959) bezeichnen. Sie waren, wie auch die Hominiden (fliegende Menschen) und wie viele Tieraffen (platyrrhine und catarrhine), fähig, erfolgreich das Hangeln auszuüben, und zeigen das auch in ihrer Differenzierung bereits an, aber sie waren keine typischen strukturellen Brachiatoren mit einer entsprechenden Extrem itätenproportionierung und -differenzierung, das heißt, sie besaßen noch nicht die relativ langen Arme (besonders Unterarme) und Hände und relativ kurze hintere Extremitaten (Primaten).

Während die Evolutionsgeschichte der Pongidae sich bereits einigermaßen überblicken läßt, ist bei der Lückenhaftigkeit, die die Fossilüberlieferung der Primaten kennzeichnet, die Situation in der urkundlichen Dokumentierung für den Hominidenast nicht gerade günstig. Sein phylogenetischer Ort, sein Ansatzpunkt an den Pongidenstamm, wird daher zur Zeit noch nicht einheitlich beurteilt. Das soll die 2 in ihrer rechten Spalte veranschaulichen. Es sind hier drei Hypothesengruppen eingetragen. Die Möglichkeit der Lage eines pongid-hominiden Übergangsfeldes (PIHU) reicht, wenn wir den drei Hypothesengruppen zunächst die gleiche Wahrscheinlichkeit zubilligen, auf dem Kreisbogen des Schemas vom mittleren (vielleicht oberen) Pliozän zum (vielleicht unteren) Oligozän.

Demnach nehmen die verschiedenen Hypothesengruppen auch verschiedene An z e s t o r e n t y p e n für den Hominidenast an. Wir können die drei Hypothesengruppen leicht durch kurze Bezeichnungen charakterisieren: i. die Brachiatorenhypothese; 2. die Präbrachiatorenhypothese; 3. die Protokatarrhinenhypothese. Diesen drei Gruppen könnte noch eine vierte hinzugefügt werden, die glaubt, die Hominiden als selbständige Linie bis auf tarsioide (koboldmakiartige) Anzestoren zurückführen zu können (Tarsioidenhypothese).

Mit der Durchschreitung des PHU beginnt die subhumane Phase der Hominidenphylogenie, also entweder mit einem strukturellen Brachiator, einem mehr oder weniger noch nicht strukturellen, aber eventuell fakultativen Brachiator (man könnte ihn am besten als Greif- und Stemmgreifkletterer bezeichnen), oder mit einem protokatarrhinenartigen pronograden, aber natürlich primär arborikolen Anzestor.

Wir haben nun abzuwägen, ob diesen drei Hypothesengruppen etwa gleiche Wahrscheinlichkeit zuzubilligen ist oder ob einer derselben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit zukommt. Wie schwierig das ist, zeigen allein schon die im Schema angeführten Namen versierter Sachkenner. Es ist hier natürlich nicht durchführbar, dieses überaus komplizierte Problem ausreichend zu diskutieren. Es muß daher auf Autoren verwiesen werden, die sich in der jüngeren Vergangenheit speziell zum B r a c h i a t orenproblem geäußert haben: Gregory, Heberer, Kü Remane, A. H. Schultz u. a.

Die Präbrachiatorentheorie scheint die am besten gestützte und damit auch die wahrscheinlichste zu sein (Heberer). Nur wenige Punkte können erwähnt werden: 1. Die allgemeine Pongidentheorie: Die komplizierte Struktur des Zahnkronenmusters bei den Hominoidea (Pongidae und Hominidae) es soll nur die Struktur der unteren Molaren berücksichtigt werden ist in ihrem Merkmalskombinat durch ein entsprechend polygenes Erbfaktorensystem bedingt, das aus einfacheren Systemen selektiv-additiv aufgebaut worden sein muß. Eine identische Wiederholung dieses polygenen Systems ist höchst unwahrscheinlich. Sie kann als praktisch nicht realisierbar angesehen werden (obwohl bei gleicher Adaptation analoge Strukturen mit adäquaten Funktionen möglich sind). Aber es gilt in diesem Falle das im Abschnitt über die allgemeine Abstammungslehre Gesagte: Elemente und einfache Strukturen können als Vorgänge wiederholt werden, kompliziertere Strukturen aber nicht sie sind historische Ereignisse . Für Merkmalskombinate nimmt die Wiederholungswahrscheinlichkeit um so mehr ab, je komplizierter das Kombinat wird. Das Muster z. B. der unteren Hominoidenmolaren, das in klassischer Ausbildung bei den Pongiden des Tertiärs vorkommt und von Gregory analysiert worden und als D r y o p i t h e c u s- M us t e r bekannt ist (3), kommt in grundsätzlich gleicher Weise bei allen Hominoidea vor und tritt schon bei oligozänen Formen (Propliopithecus, Parapithecus) auf. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß dieses, wie man auch sagt, 5-Y-Muster mehrmals unabhängig in der Geschichte der höheren Primaten entstanden ist. Auf derartigen Indizien, beruhend, kann die allgemeine Pongidentheorie als feststehend betrachtet werden. Innerhalb der Pongiden tritt nun aber ein besonderer Gebiß typus auf. Er ist bereits bei den miozänen Dryopithecinen fix und fertig . Ein schönes Beispiel ist das Gebiß von S i v a p i t h e c u s sivalensis aus den Sivalik-Bergen von Nord-Vorderindien (4). Die wichtigsten Merkmale dieser Gebißstruktur sind bei den rezenten Ponginae (Orang Utan, Gorilla, Schimpanse) ebenso vorhanden, wie sie schon im mittleren Miozän auftreten. Von den Charakterzügen dieses Gebißtyps möge erwähnt werden: relativ große, schrägstehende Schneidezähne; dolchförmig gestaltete Eckzähne; betonte Lücke (Dia-sterna) zwischen den Schneide- und Eckzähnen des Oberkiefers (zum Einschlagen der unteren Eckzähne); erster Vormahlzahn mit nur einem (Außen-) Höcker und mit einer von der Höckerspitze nach vornunter ziehenden Schneidekante (sektorialer Zahntyp), die mit dem Eckzahn des Oberkiefers. den Scherapparat bildet (= heteromorphe Caninus-Gruppe); Parallelismus der geradegestreckt verlaufenden Zahnreihen von der Spitze des Eckzahnes bis zum dritten Molaren; Affenplatte (= Knochenbrücke im inneren Kinnwinkel) u. a. Dies alles sind gegenüber den Kiefern ausgeprägter Hominiden außerordentliche Unterschiede! Sie sind so groß, daß es schwer fällt, diesen speziellen und natürlich adaptiven Gebißzustand als Ausgangs- zustand für das hominide Gebiß zu betrachten. Das Pongidengebiß ist ein erdgeschichtlich altes und bis heute stabiles Gebilde. Man kennt es seit 20 Millionen Jahren. Es ist unwahrscheinlich, daß diese phyletische Stabilität im oberen Plioziin aufgegeben sein sollte und in eine Phase sehr erheblicher evolutiver Geschwindigkeit umschlug, mit der dann in relativ kurzer Zeit noch im Pliozän der Status des hominiden-Gebisses erreicht wurde, denn im Villafranchium, dem basalen Pleistozän vor etwa 800 000 Jahren, finden wir bei den ältesten sicher zu diagnostizierenden Hominiden, den A u s t r a 1 o p i t h e c i n a e, bereits diesen Typus fertig ausgebildet. Leiten wir aber das typische Pongidengebiß und das typische Hominidengebiß von einem indifferenten Zustande ab, dann geraten wir auf alle Fälle tief in das Miozän hinein, in eine Zeit, in der es wohl generalisierte fakultative Hangeler unter den Pongiden gab, aber noch keine strukturellen typisch differenzierten Brachiatoren (Langarmhangeler wie die rezenten Ponginae). Daß die Hominiden eine strukturell brachiatorische Urwaldphase durchlaufen haben, ist auch aus zahlreichen anderen Gründen unwahrscheinlich. So laufen unsere Kleinkinder vor Erwerbung des aufrechten Ganges mit den vorderen Extremitäten wie eine pronograde Form, indem sie die Palma mit der unteren Fläche auf den Boden aufsetzen sie praktizieren nicht den Knöchelgang der Ponginen, wenn sie sich auf dem Boden fortbewegen. Die Brachiatorenhypothese ist also bei aller Verwandtschaft, die die Ponginen und Homininen einander nähert und wie sie besonders durch die serologischen Übereinstimmungen dokumentiert wird unwahrscheinlich.

Wenden wir uns nunmehr zur Frage der Wahrscheinlichkeit der Protokatarrhinenhypothese: Wir geben ihr gegenüber der Präbrachiatorenhypothese nur eine sehr geringe Chance, da nur ein Beispiel die serologische Beziehung zwischen Ponginen und Homininen zu deutlich ist. Sie bildet ein entscheidendes Argument gegen jeden Versuch, etwa die Hominiden schon von noch nicht pongiden protokatarrhinen Vorfahren herzuleiten. So bleibt also als die wahrscheinlichste Hypothese die Präbrachiatorenhypothese übrig. Sie hat als solche auf dem Kreisbogen der 2 noch erheblichen Spielraum in der Lokalisierung des phylogenetischen Ansatzpunktes der Hominidenlinie. Provisorisch nicht, daß das mit triftigen Gründen zu belegen wäre wollen wir den phylogenetischen Ort der Hominidenlinie in das mittlere Miozän verlegen. Wo das geographisch geschah, wissen wir nicht (Urheimatsproblem ). Es kommt nur ein Ursprungsareal in Betracht vielleicht Afrika, Nordindien oder das zentrale Asien?

Die Struktur des realen A n z e s t o r s können wir ebenfalls nur hypothetisch zu rekonstruieren versuchen (was ja besonders seit Darwins Abstammungswerk mehrfach versucht worden ist). Heute haben wir allerdings Funde, die damals fehlten, uns wie es scheint weniger fehlleiten, als dies etwa der Fossil-bestand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. tat.

Wir verfügen seit dem Ende der vierziger Jahre über eine Fundgruppe aus unter- bis mittelmiozänen Schichten des ViktoriaNyanza-Beckens (Kenia) von merkwürdig primitiv und evolutionspotent anmutenden Menschenaffen, es sind die Proconsulinen (die bestbekannte Form ist Proconsul africanus, s. 5). Wir kennen sie seit der Monographie von L e Gros C l a r k und L e a k e y (1951) und durch die Untersuchungen von erst 1951 gehobenen Extremitätenfunden etwas näher. Besonders die letzteren haben neues Licht auf diese Gruppe geworfen: Sie repräsentiert einen Typus, wie er uns einer Rekonstruktion des Lebensbildes in 6 entgegentritt: eine Form, die, das zeigten die neuesten Untersuchungen von Hand und Arm, wohl durchaus gut brachiatorisch zu klettern vermochte, aber doch nicht den Bau des typischen Brachiators besaß. Wir können diese Proconsulinen als Modelle verwenden für ein hominoides Evolutionsniveau, von dem aus einerseits ein Trend zum typischen Hangelkletterer über das Dryopithecinenstadium hinweg, zur Adaptation in die ökologische Nische des tropischen Regenwaldes ausging. Die Reste dieses Trends sind die rezenten P o n g i n e n, deren Biotop nunmehr schon als ein Refugialgebiet erscheint. Es sind ja auch alle nichtbrachiatorischen Pongiden der Vergangenheit ausgestorben. Andererseits aber ging von einer proconsuloiden Form in einem mehr oder weniger lichten Waldsteppengebiet ein anderer Trend aus, in dessen Verlauf eine Adaptation an das Bodenleben erfolgte und in.einem wohl stark orthoselektiven Prozeß die Bipedie erworben wurde. Die hominide Hand ist ein typisches Greiforgan, das nur in einer arborikolen Phase der Katarrhinenphylogenie entstanden sein kann. Der menschliche Fuß ist dagegen, aus dem Greiffuß entwickelt worden. Das geht nicht nur aus seiner Struktur, sondern eben aus dem Besitz der Greifhand hervor, denn es ist doch nicht anzunehmen, daß die Hand nicht in einem Baumbiotop erworben worden ist! Der Greiffuß wird heute noch klar in der Ontogenese rekapituliert (7) dagegen ist die von einigen Autoren vermutete Rekapitulation brachiatorischer Extremitätenproportionen sehr fragwürdig. Man kann sich vorstellen, daß ein konstitutionell proconsuloider Ahnentyp (6) ohne die Spezialisationen, die die Proconsulinen etwa im Gebiß zeigen, an der Basis der entscheidenden Dichotomie der Hominoidea im unteren Miozän oder etwas früher oder später bestanden hat adaptive Radiation einerseits in die Waldbiotope, andererseits in die Steppenbiotope, Trend zur Brachiation Trend zur Bipedie, Pongidenlinie Hominidenlinie. Man hat den Eindruck, daß diese zweite Hypothese größere Valenz besitzt als die erste, ganz zu schweigen von der dritten. Auf der Steppe hat der Trend zur Bipedie die erfolgreiche Gruppe im TMU die Grenze zum humanen Hominiden überschreiten lassen. Im Laufe des langen Weges bis zur Erwerbung des aufrechten Ganges ist sicherlich viel geschehen, was naturgemäß nur rekonstruktiv zu erfassen ist.

Es wird davon bei der Besprechung der ersten humanen Hominiden (Australopithecinae oder Prähomininae) noch die Rede sein. Hier wird jetzt nur noch die Frage gestreift, ob aus dem Zeitraum zwischen dem phylogenetischen Isolationspunkt der Hominiden dem mutmaßlichen proconsuloiden (die Silbe -oid etwas weitherzig aufgefaßt) Modell und dem TMÜ fossiles Urkundenmaterial vorliegt, also aus einer phylogenetischen Wegstrecke, die mindestens 15 Millionen Jahre lang ist und vielleicht eine Kette von 400 00o Generationen bedeutet.

Hier betreten wir ein noch nicht gesichertes, aber um so interessanteres aktuelles Forschungsgebiet. Es gibt aus dem Pontium (unterstes Pliozän, in französischer Skala oberstes Miozän) die Fundgruppe von B a c c i n e 110 (Grosseto) in der Toskana von einer merkwürdigen Form, die die Bezeichnung Oreopithecus bambolii erhalten hat. Dieser problemreiche Primate ist zwar schon seit dem Ende der sechziger Jahre bekannt, seit einiger Zeit (1949) ist er aber durch die morphologischen Analysen und die Neufunde, die H ii r z e 1 e r (Basel) an einem reichen Material durchgeführt hat, in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Zahlreiche Funde von Schädeln, Kiefern, Extremitäten und Zähnen, natürlich alles mehr oder weniger bruchstückhaft, liegen vor, aber auch ein ganzes Skelett ist 1958 geborgen worden. Es hat sich eine in vollem Gang befindliche Diskussion über den phylogenetischen Ort dieses merkwürdigen Wesens entsponnen. Zeitlich steht Oreopithecus recht gut an einer missing link -Stelle, die jetzt akut wird, d. h. zwischen den Au s t r a l o -p i t h e c i n e n (das sind die ältesten humanen Hominiden des untersten Pleistozäns) und dem angenommenen Brachiatorenmodell vor etwa zo Millionen Jahren. Oreopithecus wird etwa 10 bis 12 Millionen Jahre alt sein. Sein Bautypus gibt sehr zu denken. Er besitzt ein schwierig zu deutendes Merkmalskombinat, doch scheint sich langsam die von zahlreichen Sachkennern (Hürzeler, Heherer, Kälin, Pivetau, A. H. Schultz u. a.) vertretene Ansicht durchzusetzen, daß Oreopithecus ein Frühhominide aus der subhumanen Phase ist. Dem stehen jedoch noch die Meinungen anderer versierter Spezialisten entgegen. Ihr Urteil ist verschieden: Oreopithecus sei eine cercopithecoide Form er sei eine pongide Form er sei eine etwas zwischen beiden Gruppen stehende neue Gruppe , lautet ihr Votum (Koenigswald, Remane, Vallois u. a.).

Wir resümieren kurz: Für die Zugehörigkeit zum Hominidenzweig, wenn auch natürlich als Seitensproß, sprechen u. a. die typisch zweihöckerigen ersten unteren Prämolare (8), die gebogene Zahnreihe (9), das fehlende Diastema (vgl. die gestreckten mit Diastemen versehenen Zahnreihen der Pongiden). Das Skelett zeigt zwar schlanke Extremitäten, aber es sind nicht die typischen Brachiatorenproportionen entwickelt. Das Becken scheint sehr breite Ilia (Darmbeinschaufeln) gehabt zu haben, die Wirbelsäule im Lumbalabschnitt recht kräftig gewesen zu sein vielleicht also bestand bei der Bewegung eine beginnende Bevorzugung der hinteren Extremitäten. Alle die genannten Merkmale würden allein das Urteil hominid natürlich nicht rechtfertigen. Aber im Kombinat gewinnt jedes weitere Merkmal, das als hominid erkannt wird, an Gewicht (z. B. verhalten sich die Längsdurchmesser der Zahnkronen wie bei den Hominiden) und es wird immer unwahrscheinlicher, daß ein so komplexes Merkmalskombinat selbständig außerhalb der Hominidenlinie phyletisch entstanden ist.

Sollte sich also die Meinung durchsetzen, daß Oreopithecus in der Tat ein Frühhominide ist, dann hätte das folgende Bedeutung: z. Die hominide Eigenlinie wäre damit bis zurück zur Mio-Pliozän-Grenze belegt, also bis in eine Zeit, in der strukturelle Hangeler nicht zu erwarten sind. Das bedeutet ein neues Indiz gegen die Brachiatorenhypothese. 2. Oreopithecus wäre der erste stratigraphisch gesicherte tertiäre Hominide. Sein Typus würde etwa der theoretischen Erwartung entsprechen. 3. Es ist selbstverständlich, daß Oreopithecus eine Anzahl von Spezialismen zeigt; er ist als Bewohner eines Sumpfwaldbiotopes (Kohlensumpf von Baccinello) als eine Seitenlinie gekennzeichnet, deren Trend nicht zum TMU lief.

Außer diesem zur Zeit noch nicht einstimmig als hominid anerkannten, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit subhuman-hominiden Fundkomplex Oreopithecus haben wir aus der subhumanen Phase der Hominidenphylogenese keine weiteren fossilen Belege.. Es hat also hier noch durchaus das Wort Darwins von der Lückenhaftigkeit der paläontologischen Überlieferung seine Gültigkeit. Aber das wird sich ändern. Wir dürfen mit Sicherheit erwarten, daß die noch bestehende Spärlichkeit frühhominider Fossilurkunden überwunden wird und vielleicht schon in naher Zukunft einer fundierteren Theorienbildung die dokumentarische Unterlage gibt. Das ständige Anwachsen des Fundbestandes, besonders nach dem Kriege, berechtigt zu diesem Optimismus.

Alle drei Hypothesengruppen über die phylogenetische Herleitung der Hominiden sind natürlich gezwungen, diese am Ende der subhumanen Phase als voll bipede Form in das TMU eintreten zu lassen. Die Problematik des Ausgangstypus, mit dem die hominide Eigenphylogenie begann, hat aber bei Betrachtung der Zustände im TMU keine wesentliche Bedeutung mehr. Zwei Fragen stehen hier im Vordergrund: x. Wann darf ein Hominide als human bezeichnet werden? 2. Gibt es Funde von Hominiden, die vielleicht gerade auf der kritischen Grenze subhuman human stehen?

Mit K. P. 0 a k I e y machen wir die Erkennung eines humanen Hominiden in dieser Zone nicht allein von dem physisch-anatomischen Zustand abhängig etwa von dem Gehirnvolumen -, sondern auch von den Funktionen des Gehirns, die sich archäologisch nachweisen lassen in Form von Geräten , die mit Sicherheit als solche, d. h. als von Hominiden hergestellte und für bestimmte Zwecke zugerichtete Artefakte, erkannt werden können. Das ist unter Umständen sehr schwierig und des öfteren überhaupt unentscheidbar. Die humanen Hominiden werden als toolmaker (Werkzeughersteller) definiert. Wir sind auf eine solche Definition angewiesen, da wir aus der Gehirngröße in dieser kritischen Phase keine Schlüsse auf die funktionellen Möglichkeiten des Gehirns ziehen können.

Zeitlich müssen wir das wurde schon erwähnt (s. und 2) das TMU im oberen Pliozän ansetzen. Paläontologische Funde pliozäner Hominiden gibt es sehen wir von dem Oreopithecus-Problem ab bislang noch nicht. In jüngster Zeit sind pliozäne Artefakte beschrieben worden, aber sie werden nicht allgemein anerkannt; allerdings gibt es Geröll-Geräte (pebble tools ) bereits aus dem unteren Villafranchium. Theoretisch stände der Annahme solcher Geräte nichts im Wege. Die ersten Datierungen der sogleich näher zu kennzeichnenden Australopithecinen, die das TMU schon verlassen haben dürften, in das Pliozän haben sich als irrtümlich erwiesen. Wir haben also in der Tat aus dem Pliozän, speziell dem TMU, keinen urkundlichen Beleg. Aber wir werden sehen, daß der anatomische Typus der Australopithecinen es erlaubt, sie als strukturelle Modelle von TMU-Hominiden anzusehen. Sie sind damit auch Modelle für den basalen Ausgangspunkt der großen euhomininen Radiation, die dann für das Pleistozän so bezeichnend ist (Paläanthropologie).

A u s t r a l o p i t h e c i n a e (Praehominae) sind uns seit 1924 (T a u n g) aus Transvaal bekannt. Wir kennen sie jetzt auch aus Ostafrika und aus Ost- und Südostasien. Das zur Zeit verfügbare Material besteht aus den Resten von weit über 100 Individuen.

Ganz zweifellos waren es bipede Formen, bei denen bereits ein im wesentlichen ausdifferenzierter aufrechter Gang bestand. Es liegen bisher fünf Beckenfragmente vor. Die Gestalt der Darmbeinschaufeln entspricht schon weitgehend der euhomininen Form und unterscheidet sich grundlegend von den Darmbeinen semiorthograder Pongiden oder pronograder Tieraffen. Die Wirbelsäule besitzt eine typisch euhominine Lendenlordose, außerdem durch ihre Breite und Biegung und die Zurückverlagerung der Gesäßmuskeln (Glutealmuskulatur) die Voraussetzungen für die Ausübung des aufrechten Ganges und der aufrechten Körperhaltung. Die euhominine Struktur des Bek kens ist genau untersucht, und 10 gibt eine Vergleichsmöglichkeit des morphologischen Befundes bei Pongiden und orthograden Hominiden. Das Gliedmaßenskelett ist bisher nur sehr fragmentarisch bekannt geworden, aber es dürfte sich ebenfalls nicht wesentlich von dem humaner Hominiden unterschieden haben. Die ältesten bisher in unserem Fundbestand vorhandenen Extremitäten gehören zu den im Mittleren Pleistozän auftretenden Archanthropinen (P i t h e c- S i n a n t h r o p u s-Gruppe) und sind von heutigen Zuständen nur wenig verschieden. So muß allein schon von ihnen aus mit einem langen Bestehen der orthograden Bipedie und ihrer anatomischen Basis gerechnet werden. Auch wenn wir die Australopithecinen nicht kennen würden das traf hinsichtlich der postkranilen Skelettstruktur bis nach dem zweiten Weltkrieg fast vollständig zu , wäre die Bipedie in ihrem ersten Auftreten in das Pliozän zu verlegen. Auf der Wirbelsäule des Australopithecinen-Skelettes aber wurde nahezu im Schwerpunkt ein Schädel getragen (balanciert), der in seiner Proportionierung, im Verhältnis des Neuro- zum Viszeralkranium etwa dem der rezenten Ponginen entsprochen hat. Der am besten erhaltene Schädel (ohne Unterkiefer, der aber von anderen Funden gut bekannt ist) stammt von der früher als Plesianthropus(V) , jetzt Australopithecus (besser wäre Australanthropus , Paläanthropologie) bezeichneten Form (55, I a, b) vom Fundort Sterlcfontein bei Johannesburg. 11 belegt diese Proportionsähnlichkeit schlagend. Sie wäre noch größer, wenn als Vergleichsstück ein weiblicher Schimpanse genommen worden wäre, da das Stück von Plesianthropus auch weiblich sein dürfte. Daß man in dieser Ähnlichkeit keinen Hinweis auf die direkte Herkunft der Australopithecinen von typ i s c h en ponginen Vorformen sehen darf, ergibt sich aus der morphologischen Merkmalsanalyse des Schädels und des Gebisses. In zahlreichen speziellen Eigentümlichkeiten zeigt sich so die Merkmalsbildung der Australopithecinen typisch hominid und nicht pongid. Natürlich sind auch Beziehungen zu den Pongiden vorhanden, wie natürlich auch bei rezenten Hominiden. Fehlten sie, würden wir keinen Grund haben, eine Überfamilie Hominoidea aufzustellen. Und wenn die Australopithecinen als ältere Hominiden diese Beziehung hier oder da stärker demonstrieren, so ist das bei strukturell so alten Typen durchaus zu erwarten. Man darf sie zwar mit den rezenten Pongiden vergleichen, aber aus ihrer stärkeren Ähnlichkeit mit diesen nicht ohne weiteres den Schluß ziehen, daß sie den rezenten Pongiden noch näher stünden als wir. Das wäre ein leichtfertiges Verfahren! Sie stehen den entsprechenden Vor f o r m e n der Pongiden näher, und das ist schließlich ein Effekt des Konvergierens der Pongiden- und Hominidenlinien auf einen früheren Schnittpunkt hin, an dem dann Identität herrscht. Man kann nur kommensurable Größen vergleichen, sonst werden verhängnisvolle Fehlschliisse gezogen! Das ist methodisch wichtig und wird nicht immer berücksichtigt. Die Hominidenähnlichkeit der Australopithecinen mit den Hominiden soll wenigstens am Gebiß kurz vorgeführt werden. Der eigentümliche, schon im Miozän vorhandene und seitdem evolutorisch stabile Zahnbogen der Pongiden (4, Sivapithecus sivalensis, 12 rezente Ponginen) mit der Parallelität der Zahnreihen, die sogar nach hinten konvergieren können, ist bei den Australopithecinen nicht ausgebildet, sondern der Bogen entspricht dem der Hominiden in grundsätzlicher Weise. Bei den Pongiden findet sich im Unterkiefer die heteromorphe Caninusgruppe. Bei den Australopithecinen ist wie bei allen bekannten Euhomininen und auch schon bei den Oreopithecinae der erste Prämolar molarisiert und zweihöckerig mit relativ großem Innenhöcker geworden. Der Eckzahn ist nicht dolchförmig, sondern hat Spatelform mit dem größten Kronendurchmesser in der Mitte der Krone und nicht an ihrer Basis wie bei den Pongiden. So haben die Australopithecinen wie die Euhomininen eine klar hominide homomorphe Caninusgruppe. Natürlich fehlt dann t y p i s c h das Diastema. Wenn es gelegentlich Pongiden gibt, die am ersten Prämolaren einen starken Innenhöcker haben oder kein Diastema besitzen, so ist das nicht das typische Verhalten, sondern der Ausdruck einer Variationspotenz, die doch nicht unerwartet ist. Es muß nicht allein kommensurabel, sondern auch statistisch, d. h. mit den signifikanten Mittelwerten, verglichen werden. Das gilt auch für die Oreoaithecusdiskussion. Die soeben für das Gebiß der Australopithecinen beschriebene Struktur tritt bereits prinzipiell im Milchgebiß auf. Es herrscht nun in der Beurteilung der Australopithecinen Einigkeit darüber, daß wir sie zu den Hominiden stellen müssen aber in welche Phase ihrer Geschichte? Geologisch sind sie relativ jung sie gehören in das Villafranchium, das basale Pleistozän. Ihr maximales absolutes geologisches Alter dürfte 800 000 Jahre nicht überschreiten, auf Java scheinen australopithecine Formen (M e g a n t h r o p u s ) bis in das mittlere Pleistozän oder doch bis in das obere Unterpleistozän hinaufzugehen, wohl auch in China, in eine Zeit also, in der es schon typisch archanthropin differenzierte euhominine Stämme gibt. Strukturell aber sind es merkwürdige Formen, die auf einem Aufrechtgängerskelett einen pongoid proportionierten Schädel balancierten. Die Größe der Gehirne dieser Gruppe liegt q u a n -t i t a t i v vermittelnd zwischen ponginen und euhomininen Zuständen. Man darf dieses Vermitteln zwischen den verglichenen Formen aber nicht als wirklichen Übergang verstehen.

Die Australopithecinen waren also Formen mit einer geringen absoluten Gehirngröße, überschritten aber in ihrer Schwankungsbreite die Ponginae und erreichten die Schwankungsbreite der Euhomininee mit ihren maximalen Werten. Es ist natürlich zu berücksichtigen, daß das Gehirnvolumen nicht isoliert, sondern immer nur im Zusammenhang mit der Körpergröße betrachtet werden darf. Wenn ein Gorilla maximal die Größe von 685 cm3 erreicht, so gehört dazu ein Körper von mehr als 25o kg Gewicht; wenn ein Australopithecine maximal 700-800 cm erreicht, dann gehört dazu vielleicht ein Körpergewicht von nur 75 kg. Bei den besonders großkieferigen (megagnathen) Australopithecinen der Par an t h r o p u s- Gruppe war der Ansatzraum für die starke Kaumuskulatur auf der relativ kleinen Hirnschädeloberfläche zu klein. So bildete sich ein mittlerer Scheitelkamm (13), nicht als eine phylogenetische Reminiszenz an solche Scheitelkämme tragende Vorfahren, denn solche Sagittalkämune finden sich immer auch bei anderen Tieren, wenn die Schädeloberfläche relativ klein, die Kiefermuskulatur aber relativ groß ist (Enantioplastik n. M o l l i s o n). Die Morphologie der australopithecinen Scheitelkämme ist auch anders als die der Pongiden. Es sind analoge funktionelle Bildungen, die bei weiblichen und schwachen Exemplaren fehlen. Man hat die Meinung wahrscheinlich machen wollen, daß die Auffindung besonders großer Kiefer und Zähne in mittelpleistozänen Schichten Chinas für die Existenz großwüchsiger (megasomer) Typen, sog. Giganten (G i g a n t o p i t h e c u s), spräche. Dem wird hier entgegengetreten, da sich z. B. gezeigt hat, daß die großkieferigen Paranthropinen unter den Australopithecinen nicht megasom, sondern nur megagnath gewesen sind. Es ist übrigens nicht unmöglich, daß wir die chinesischen Riesen zu den Australopithecinen stellen müssen und nicht zu den Pongiden. Aber hier ist die Diskussion noch im Fluß.

Dieser eigentümliche Bautypus der Australopithecinen gibt aber trotz Ausscheidens aus der direkten Stammeslinie der Euhomininen nach dem TMÜ, das ja ihr relativ geringes geologisches Alter erfordert strukturell doch ein Modell für den morphologischen Zustand, den wir im TMÜ annehmen können. Wie sie sahen wohl die ältesten Typen der humanen Hominiden aus. Der psychische Status der Australopithecinen entspricht solcher morphologischen Struktur in sehr interessanter und bezeichnender Weise. Ihre Kapazität reichte durchaus hin, um ein frühes tool maker -Stadium zu repräsentieren aber es kann zur Zeit nicht entschieden werden, ob sie bereits Geräte herstellten oder ob sie nur nichtartefizielle Werkzeuge verwendet haben. Das letztere ist sicherlich in beträchtlichem Maße schon seit langer Zeit in der subhumanen Phase der Fall gewesen, da ja sonst der morphologische Bau der Australopithecinen nicht zu verstehen wäre. Dieser Ban ist aber auch der Beweis, daß sie psychisch ebenfalls schon in die humane Phase gehörten. Sie besaßen keine speziellen Schutz-, Wehr- (Gebiß!) oder Fluchtanpassungen, sie mußten diese Mängel durch das Gehirn kompensieren. Auch dann, wenn es sich herausstellt, daß die Australopithecinen noch keine Geräte intentionell herstellten, um bestimmte technische Aufgaben zu bewältigen, können wir die Australopithecinen doch als Modelle ältester humaner Hominiden ansehen. Zur Zeit herrscht keine Einigkeit über diese Frage. Die von D a r t besonders von dem Fundort Makapan beschriebene osteodontokeratische Kultur (Knochen-Zahn-HornKultur) ist umstritten, und der Nachweis von echten pebble tools und Faustkeilen vom Oldowan-Typus in Australopithecinen führenden Schichten spricht eher dafür, daß die Australopithecinen die Gejagten als die Jäger waren. Aber ein Grund, ihnen die Fähigkeit zur Geräteherstellung abzusprechen, besteht nicht. Ihre Kapazität reichte dazu aus. Das Feuer haben sie sicherlich noch nicht benutzt. Es ist überhaupt kein Kriterium für subhuman oder human, denn es scheint erst relativ spät in der humanen Phase, in Gebrauch genommen worden zu sein. Noch immer ist der älteste Feuernachweis die berühmte Fundstelle des S i n a ri t h r o p u s in Chou Kou Tien, die etwa 300 000-400 000 Jahre alt sein dürfte.

Im Laufe der Phylogenie der Primaten ist es wiederholt zu adaptiven Radiationen gekommen. Immer dann, wenn ein günstiger Typus, wenn ein adaptives Plateau erreicht war, trat von dieser Basis aus eine solche Radiation ein. Die letzte war die mioziine Pongidenradiation. Von ihr sind uns aus Europa, Asien und Afrika zahlreiche fossile Zweige bekannt. Einen Zweig dieser Radiation bildeten die Hominiden, die durch den Übergang zum Steppenleben im Verlaufe des Mio-Pliozäns der einseitigen adaptiven Bindung an den Waldbiotop (tropischer Regenwald) entgingen. Gegenüber den ponginen brachiatorisehen Waldspezialisten verkörpern die bipeden terrestrischen Hominiden einen offenen Ökotypus , der mit höchster Plastizität ohne wesentliche anatomische Typusänderung sich in zahlreiche spezielle Nischen seines beinahe universalen Biotopes eingefügt hat. Die Kombination aufrechter Gang , Freisetzung der Hand und Cerebralisation mit ihren funktionalen Korrelationen sind die Grundlagen der Hominisation. Alles dies ist bei den Australopithecinen erreicht. Ihre Körperkonstitution wie sie der Rekonstruktionsversuch in 14 darzustellen versucht (alles Physiognomische ist natürlich hypothetisch) ist derart, daß ohne Kompensation der physischen Unzulänglichkeiten durch ein leistungsfähiges Gehirn eine Existenzmöglichkeit sehr unwahrscheinlich ware. Das ist der Grund, weshalb die Australopithecinen als die bisher strukturell urtümlichsten humanen Hominiden betrachtet werden. Da sie gegenüber den höheren Hominiden sich morphologisch stark absetzen, werden sie als eigene Unterfamilie (A u s t r a 1 o p i t h e c i 11 a e) diesen höheren Hominiden gegenübergestellt, die dann als H o m i n i n a e bezeichnet werden. Um das echt Menschliche zu betonen, wird noch die Vorsilbe Eu benutzt: Euhomininae. Es wäre sinngemäß, diesen die australopithecinen P r ä hem i n i n a e gegenüberzustellen, doch entspricht dies nicht genau den Nomenklaturregeln. Die Bezeichnung Australopithecinae hat die Priorität.

Mit ihrem Typus hatten die Hominiden ein außerordentlich potentielles adaptives Plateau erreicht, von dem aus die euhominine Formenradiation mit dem Pleistozän einsetzt (Paläanthropologie). Die Australopithecinen sind also Modelle für das physische Bild der Menschheit im TMU und bilden sozusagen den Abschluß der Hominisation als erste humane Hominiden. Von einer Basis aus, die nicht weit von diesem Modell entfernt gewesen sein dürfte, ging die humane Menschheit, ging die Kultur aus.

Eine Schlußbemerkung ist noch zu machen: Der physischen Geschichte der Hominiden ist die psychische Geschichte parallel gelaufen. Physis und Psyche entsprechen sich, sie sind komplementäre Phänomene. Wir werden erwarten, daß die Funktionen des Gehirns, welche die psychische Seite des Lebendigen spiegeln, ebensowenig wie die physische Seite makroevolutive Saltationen durchgemacht haben. Wir rechnen vielmehr auch hier mit einer mikroevolutiven Wandlung, die der physischen als der anderen Seite entspricht. Beide Seiten sind Aüißerungen eines Dritten, das wir seinem Wesen nach nicht zu definieren vermögen (vgl. B. R e n s c h 1959).
 
     
     
 
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