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Die Welt ist gefährlich

 
     
 
Von Montag bis Freitag kommt täglich um 14.05 Uhr die Glückwunsch-Antenne. Seit vier Wochen auch zu den Fernsehzuschauern in Berlin. In einem gelbroten Studio sitzt ein merkwürdiges Neutrum und verliest Glückwünsche zum 70. Geburtstag von Tante Frieda und zum 80. von Onkel Franz. Dazu werden Fotos eingeblendet, die die Jubilare im Kreis der gratulierenden Erbengemeinde zeigen und aus Gründen der persönlichen Würde lieber im Familienalbum versenkt geblieben wären. Dem Zuschauer bleibt die Erkenntnis, daß die ältere Generation vor dem Medienexhibitionismus ebenfalls nicht mehr sicher ist.

Ein besonderer Fall ist der quäkende Moderator
. Nur noch sehr, sehr alte Menschen aus der Ex-DDR erinnern sich, ihn als Schlagersänger erlebt zu haben, doch auch ihnen ist sein Name entfallen. Früher, als die Glückwunsch-Antenne sich auf den Sendebereich des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB) beschränkte, hatte er auf dem Schoß ein Hündchen sitzen. Wenigstens das ist seit der Fusion des ORB mit dem Sender Freies Berlin (SFB) verschwunden. Schließlich weiß man, was man dem jetzt mitangeschlossenen Großstadtpublikum schuldig ist. "Unser Programm sind Sie!", dröhnt der neue Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) in Ranschmeißer-Manier. In Panik wirft der Zuschauer einen Blick in den Spiegel und atmet erleichtert auf: So schlimm ist es denn doch noch nicht! Um so schlimmer für den Sender.

Seit dem 29. Februar gibt es für Berlin und Brandenburg ein gemeinsames Fernsehen, das auch als Vorgriff auf die anstehende Länderfusion interpretiert wird. Die gilt offiziell immer noch als Fernziel der Politik. Aber geht das überhaupt? Kann man zwischen Kreuzberg und Finsterwalde, Prenzlauer Berg und Prenzlau, Wilmersdorf und Beeskow, zwischen der größten Stadt Deutschlands und dem dünnbesiedelten Flächenland das nötige Gemeinschaftsgefühl herstellen? Lassen sich die Interessengegensätze überbrücken?

Die Senderfusion erscheint eher als Ergebnis wirtschaftlicher Notwendigkeit statt als eine Folgerichtigkeit, die sich mit den Inhalten begründen läßt. Intendantin Dagmar Reim setzt auf "interessante Angebote, die unabhängig von freundschaftlichen Befindlichkeiten sind". Ein Landessender aber, der keine freundschaftlichen Befindlichkeiten schildert, wozu soll der gut sein? Ein Beispiel: Bei den Berliner Zuschauern war die SFB-Sendung Muwie beliebt. In der Hauptstadt gibt es eine Unmenge Kinos, Muwie war für Kinogänger eine nützliche Handreichung. Im weitgehend kino- losen Brandenburger Land dagegen ist diese Sendung verzichtbar - also fiel sie weg. Der ORB hat weit mehr als der SFB das neue Programm geprägt. Dahinter mag der Gedanke stecken, in Brandenburg keine Ängste über die Hauptstadt- dominanz aufkommen zu lassen, die sich bei einer späteren Volksabstimmung über die Länderfusion entladen könnten. Deshalb gibt es jetzt auch neue Ratgebersendungen. Eine heißt Hauptsache Mensch. Der Titel trifft den Nagel auf den Kopf. Hier wird triefend gemenschelt, nach dem Motto: Die Welt ist gefährlich, aber keine Angst, wir nehmen Euch an die Hand!

Für die abendliche Talkshow am Donnerstag wurde Ulla Kock am Brink engagiert, eine hyperaktive Schreigans, die man nur aus Spielshows kennt. In der Hunderttausend-Mark-Show feuerte sie kreischend junge Paare an, die durch den Schlamm zum Hauptgewinn zu robben versuchten. Sonst weiß man von ihr bloß, daß sie ihrer Freundin Sabine Christiansen den Ehemann ausgespannt hat. Was befähigt sie sonst noch für den Job? Laut Intendantin Reim "wohnt (sie) seit einiger Zeit in Babelsberg, sie kennt die Region". Babelsberg ist eine Gegend für Betuchte. Parallel zum Engagement Kock am Brinks hat das Kulturradio, das der RBB gemeinsam mit dem NDR betreibt, durch die neueste Programmreform einen gnadenlosen Niveauverlust erlebt.

Berliner Zuschauer erlebten eine Zeitreise, wenn sie früher den ORB einschalteten. Etwa bei Bürgersendungen aus dem Speckgürtel um die Hauptstadt, die unter dem Motto standen: Hilfe, die Wessis kommen! Man sah amüsiert, wie Alt- und Neubewohner sich lautstark bekeiften. In Berlin-Prenzlauer Berg, wo die Hälfte der Einwohner durch Zuzügler aus Ulm oder Hannover ersetzt worden ist, kann man über solche Probleme nur lächeln. Positiv sticht die Sendereihe Geheime Orte hervor. In der ersten Folge wurde Hohenlychen vorgestellt, wo sich ein SS-Lazarett befand und Himmler die letzten Kriegswochen verbrachte. Aber das reicht nicht aus, um den gemeinsamen Sender inhaltlich zu rechtfertigen. Wenn man das Für und Wider einer Länderfusion anhand der Senderfusion abwägt, dann lautet heute das Urteil: Lieber nicht!

Durch den Schlamm zum Hauptgewinn: Nach ihren Erfahrungen mit der Hunderttausend-Mark-Show moderiert Ulla Kock am Brink mit Kollege Jörg Thadeusz nun die RBB-Talkshow. Foto: RBB/Haring

 
     
     
 
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