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Die letzten Stunden

 
     
 
Herbst 1944. Räumungsbefehl! Tag und Route sind festgelegt. In unserem sonst so friedlichen Dorf an der Memel gibt es jetzt immer wieder Fliegerangriffe, von denen man vorher nur aus den Städten wußte. Auch der immer lauter werdende Geschützdonner der nahenden Front läßt sich nicht überhören. Das läßt keinen Zweifel darüber offen, daß die Flucht notwendig ist. Unvergleichlich schwer ist der Tag des Aufbruchs, der Abschied von der Heimat, von dem Fleckchen Erde, auf das man gehört, dem man entstammt, das einem heilig ist.

Wir erheben uns von einem Nachtlager, das keines mehr gewesen ist. Während meine Großmutter Brot- und Spirgelteller auf den Frühstückstisch stellt, zittern ihre Hände merklich. Schweigend wird gefrühstückt, ohne daß jemand Appetit hätte. Der Hofhund kommt herein und trollt sich unter den Tisch. Das tut er sonst nur bei Gewitter und in letzter Zeit bei den Fliegerangriffen.

Nach dem Frühstück geht der Großvater noch einmal hinaus auf seine Felder. Er nimmt mich mit. Ungewöhnlich ist dabei, daß er mich heute so fest an der Hand hält. Das ist nicht seine Art. Auch daß er kein Wort spricht, kenne ich so nicht von ihm. Wenn ich sonst mit ihm spazierte, sprach er nahezu ständig. Immer wußte er mir etwas zu erzählen. Heute indes kommt kein Wort über seine Lippen. Kaum zu verkraften ist der Schmerz, daß ihm auferlegt ist, die geliebte Scholle und den Hof zu verlassen, wo schon sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater gelebt haben, geboren wurden und gestorben sind.

Lange dauert es, bis wir von diesem Gang zurückkehren. An jedem Acker, an jeder Weide bleiben wir stehen. Auf dem Hof öffnet Großvater alle Verschläge im Stall, aber die Türen bleiben angelehnt. Die Tiere sollen ihr Gewohntes auskosten, so lange es geht. Tröge und Krippen sind am Abend vorher so vollgeschüttet worden, daß sie teilweise noch über die Hälfte gefüllt sind.

Die Kühe werden losgebunden. Noch stehen oder liegen sie auf ihren dicken Schütten von sauberem Stroh, bald aber werden sie durch die offenen Stalltüren drängen und unkontrolliert herumstreunen, gequält durch die übervollen Euter, um die sich niemand kümmern wird.

Auch das Kleinvieh wird noch ein letztes Mal gefüttert. An allen Ecken des Hofes verstreut meine Großmutter dicke Schichten von Körnern.

Scheune, Keller und Speisekammer sind gefüllt. In der Küche gärt in einem großen Faß der Sauerkohl. Vor der Haustür steht der planenüberspannte Fluchtwagen. Noch so manches möchte die Großmutter aufladen, aber der Großvater läßt es nicht zu. Er hat tags zuvor die Pferde
schon einmal vorgespannt und dabei festgestellt, daß sie den übervollen Wagen kaum von der Stelle bekamen. Gemeinsam gehen wir zum Friedhof. Mit gefalteten Händen stehen wir an den Gräbern der Ahnen. Sie dürfen in der Heimat ruhen, welcher Platz aber würde uns, den vor ihren Gräbern Stehenden, beschieden sein? Schon sehr nah scheint jetzt der dumpfe Kanonendonner der Front - eine eindringliche Mahnung zu raschem Aufbruch.

Gegen Mittag ist es soweit. Die Pferde werden vor den Wagen gespannt. Die Mutter hebt mich hinauf. Die Großmutter verschließt die Haustür.

Den Schlüssel steckt sie unter den Sparren des Daches, wie sonst, wenn sie aufs Feld oder ins Dorf geht. Der Großvater ergreift die Zügel. Es ist das erste Mal, daß ich ihn weinen sehe.

Auf dem Zufahrtsweg vom Gehöft zur Chaussee ist uns allen, als hätten wir einen Schleier vor Augen. Die Nachbarn schließen sich an. Das gesamte Dorf bricht auf. Das altvertraute Leben, das Leben in gewohnter Gemeinschaft mit den Menschen, die weitgehend von Geburt an zu einem gehörten aus Dorf und Nachbarschaft, das, was man Heimat nennt, gibt es schon jetzt nicht mehr.

Auf der Anhöhe hält der Großvater noch einmal an. Wir schauen hinunter zu unserem alten Hof und unseren Feldern. In meinem kindlichen Schmerz hebe ich die Hand und winke. Ich winke einem verlassenen Gehöft zu, meinem Erbe. Dann ziehen wir weiter auf dem Weg ins Ungewisse, als Fremde in die Fremde. Wie unzählige andere auch.

 
     
     
 
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