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Ein Kleeblatt schlägt eine Brücke

 
     
 
Seit 1992 reist Karina Stängle im Juli / August auf die Kurische Nehrung in den malerischen Fischerort Nidden. Schon seit Jahrhunderten zieht es die Künstler und die Reisenden an die Ostsee, zu den Wanderdünen, zum Haff. Diese außergewöhnliche Landschaft war bereits zu Humboldts Zeiten bekannt. Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich in Nidden eine Künstlerkolonie
. Begonnen hatte es mit den Malaufenthalten von Angehörigen der nahen Königsberger Kunstakademie. Die Professoren erteilten ihren Studenten Unterricht unter freiem Himmel, in der "Sandakademie". Bald beherrschte das Bild Niddens die Säle der Kunsthalle in Königsberg. Der Ruf ging bis Berlin und Dresden.

Warum kamen die Maler? Sie waren von der Landschaft fasziniert. Da gibt es die Wanderdünen. Das Licht, die Sonneneinstrahlung taucht die Masse Sand je nach Sonnenstand in fantastisches Licht von Schneeweiß bis Tiefviolett. Zudem ergeben wechselnde Wolkenfelder die Veränderung und Belebung des Himmels. Schnell muß man die Szene festhalten!

Landschaft, Farbenspiel und die Kontraste sind geblieben. Wo sind die Maler, fragte sich Karina Stängle während ihrer Aufenthalte, den Wochen im Juli und August, die sie dort verbrachte, während sie aquarellierte, badete, wanderte, radelte. Sie beschloß, dort Malkurse abzuhalten. Sie bietet seit 2001 diese Kurse an. Zugleich bringt sie Neugierigen die Landschaft nahe, das Weltkulturerbe seit 2000.

Eine Künstlergruppe aus Wilna suchte den internationalen Kontakt. Es war die Künstlervereinigung "Tiltas" (Brücke). Karina Stängle erhielt Anfang letzten Jahres eine Einladung zu einem Seminar in Nidden zusammen mit litauischen Malern. Zu der spontanen Einladung kam es aus mehreren Gründen: Sie ist Deutsche, für die Gruppe der erste deutsche Kontakt. Ein weiterer Grund für den Kurator war, daß ihre Geburtsstadt Königsberg ist, zu welcher der Kurator Saulius Kruopis eine besondere Beziehung hat. Es fiel Karina Stängle leicht zuzusagen. Sie mußte eine vertragliche Abmachung akzeptieren, daß sie während des Seminars zwei Leinwände mit Impressionen von Nidden, der Nehrung zu malen hat. Ein Bild möchte die Stadt in ihr Archiv nehmen, eine weiteres Arbeit ist für eine Wanderausstellung bestimmt, die in Memel, Kaunas, Wilna, Minsk und Königsberg in Rathäusern, Galerien, Botschaften und Museen gezeigt werden soll. Karina Stängle mußte sich verpflichten, ihre Arbeiten für Veröffentlichungen freizustellen. In Art einer Bewerbung wurden Nachweise ihrer bisherigen Studien gewünscht, zusammen mit Fotos ihrer Arbeiten und einem Paßbild. Die Gegenleistung der Gruppe "Tiltas" bestand in freier Kost und Logis in Nidden. Gleichzeitig wünscht sich die Gruppe einen Austausch in ähnlicher Art für fünf bis sechs litauische Maler.

Karina Stängle konnte noch drei weitere deutsche Künstler mitbringen zu gleichen Bedingungen. Auf Anhieb und voller Begeisterung hatte sie in kürzester Zeit mit Ingrid Kaftan, Bärbel Pietrzyk und Waltraud Schwarz drei erfahrene Malerinnen aus Aalen, Ulm und Marburg beieinander. Sie alle erhielten die Zusage.

Dank Karina Stängles Erfahrungen von ihren Malreisen nach Nidden fand das Kleeblatt einen preiswerten Flug von Hamburg nach Palangen, dem Flughafen 30 Kilometer nördlich von Memel. Den Transfer von rund 100 Kilometern von Polangen über Memel und das Memeltief auf die Kurische Nehrung buchte Karina Stängle gleich mit. So waren sie auf der sicheren Seite.

Die mitgebrachten Arbeiten sollten gleich zu Beginn des Seminars im Kulturzentrum von Nidden ausgestellt werden. Es sollte eine Eröffnung stattfinden mit dem deutschen Botschafter aus Vilnius sowie dem Bürgermeister und dem Kulturreferenten der Stadt. Das Treffen schien immer interessanter zu werden.

Am Hamburger Flughafen schaute die Air Lithuania sehr genau hin. Die extra angefertigten Behälter für die mitzubringenden Arbeiten wurden zum Sperrgut erklärt, eingeschätzt und die ersten Zusatzkosten bei der knappen Reisekostenkalkulation entstanden.

Glückliche Landung auf dem kleinen Flugfeld. Alles reibungslos. Der Taxifahrer stand bereit. Er war zum Glück für das Kleeblatt mit einem größeren Transporter gekommen für ihr sperriges Gepäck.

Nach zweistündiger Fahrt an Memel vorbei, mit der Fähre über das Memeltief auf die Kurische Nehrung und die Poststraße entlang durch die sonnendurchfluteten Nehrungswälder erreichten sie Nidden. Fragen, wie sie dieses Licht mit Acrylfarbe auf die Leinwand umsetzen sollte, beschäftigten Karina Stängle schon jetzt.

Das Hotel überraschte die vier. Als ehemaliges Quartier von Parteigetreuen der kommunistischen Vorzeit hatte es durch eine vorausgegangene Renovierung ein neues Image erhalten. Jedem der vier wurde zu ihrem größten Erstaunen ein Apartment mit zwei Zimmern und Balkon zugeteilt. Diese Großzügigkeit hatten sie nun wirklich nicht erwartet.

Da ihr Hotel zwischen Haff und Ostsee auf einer mit Kiefern und Laubbäumen bewachsenen Düne lag, hatten sie nur eine Viertelstunde Weg durch den Wald bis zum Strand zu gehen. Die Ostsee empfing sie wellenbewegt. Der Strand war fast menschenleer. Einige Sonnengenießer der Nachsaison trafen sie gerade noch an.

Am Abend traf Saulius, der Kurator des Seminars, mit seinem Assistenten Arturas ein. Endlich. Die vier erzählten, fragten, fragten und begannen zu verstehen, daß hier alles etwas langsamer läuft. Erstmal hatten sie den nächsten Tag zu ihrer Verfügung.

In den nächsten Tagen lernten sie weitere Teilnehmer aus der Ukraine, aus Lettland, Polen und Rußland kennen. Sie waren in verschiedenen Quartieren untergebracht, nicht unbedingt mit Malräumen. Für die "Freie Kost" erhielten alle für jeden Tag einen Bon im Wert von 30 Litas (knapp 8,70 Euro), einzulösen im besten Restaurant von Nidden. Der Betrag war ausreichend für Essen und Getränke.

Am zweiten Tag rief die deutsche Botschaft in Wilna an. Karina Stängle wurde gefragt, ob das Quartier in Ordnung sei und ob sie und ihre Reisegefährten sich wohlfühlten und auch sonst keine Probleme bestünden.

Ihren Malplatz richteten sie sich auf den Balkonen ein. Ein Balken von der Nachbarbaustelle vom Fenstersims zum Balkongeländer gelegt, ersetzte die Staffelei.

Das Kleeblatt erlebte noch viele sonnige Tage. Man traf sich am FKK- oder am Familienstrand. Karina Stängle kamen die Badeszenen der Expressionisten in den Sinn, die diese hier zur Zeit der Künstlerkolonie in Öl und Aquarell malten, ähnlich den Motiven an den Moritzburger Teichen.

In Memels Museumsgalerie wurden die Ergebnisse des Seminars des vorherigen Jahres ausgestellt. Es war zugleich das zehnjährige Jubiläum der Gruppe Tiltas. Die ganze Gruppe war bei der Eröffnung durch die Direktorin des Museums und Saulius dabei. Die Ausstellung zeigte kräftige Farben. Die Arbeiten waren oft mit expressionistischem Duktus gemalt in Öl und Acryl, oft sehr pastos. Die Themen waren die Landschaft der Nehrung, Boote, weniger die Menschen. Realistisch und abstrahiert drückten sich etliche Maler aus. Romantischen Idealismus konnte man entdecken.

Jeder Maler hatte eine der viergeteilten Leinwände gestaltet, die zusammengehängt als gemeinsames Werk den Eindruck von guter Zusammenarbeit vermittelten.

Die Rückfahrt über die Nehrung bot den vieren ein imposantes Bild: Die rote Mondsichel hing genau über der Poststraße, während sie links und rechts der Wald schwarz begleitete.

Die Eröffnung der Ausstellung der mitgebrachten Arbeiten fand ein paar Tage später im Kulturzentrum von Nidden statt. Dank der Kunstkritikerin aus Wilna und ihres Assistenten waren Bilder der 25 Künstler souverän aufgehängt.

Es moderierte eine Dame vom Kulturamt. Sie übersetzte für die Gäste die Begrüßungen und Reden des Niddener Bürgermeisters und des Kulturreferenten. Saulius Kruopis, der Kurator des Seminars, hob besonders hervor, daß er zehn Jahre lang an einem Kontakt zu bundesdeutschen Künstlern gearbeitet hatte und dieser endlich durch Karina Stängle möglich wurde. Der Vertreter der deutschen Botschaft in Wilna begrüßte die Deutschen besonders herzlich. Die Kunstprofessorin ging auf deren von zu Hause mitgebrachten Werke ein. Karina Stängle bedankte sich im Namen ihrer Gruppe für die Einladung.

Die deutsche Botschaft lud zum Bankett. Es gab Sekt, Wein und Bier sowie litauische Spezialitäten wie geräucherten Aal, Zander, gebratenes Brot mit Knoblauch oder Käse. Informative Gespräche über Ausstellungen und Heimatorte in Deutsch und Englisch gingen quer durch den Raum.

An den nächsten Abenden fand eine Begegnung bei den beiden Malern aus der Ukraine im Seglerheim statt. Sie hatten sehr gute, interessante Kataloge mitgebracht. Karin Stängle erfuhr, daß sie bereits in Österreich in Banken ausgestellt hatten. Einen anderen Abend gestaltete die deutsche Gruppe. Es waren vier Künstler aus Ahrenshoop dazugekommen und zwei Künstler aus Münster und Eschweiler. Sie präsentierten Kataloge und Fotos ihrer Arbeiten in der Bundesrepublik, verteilten ihre Postkarten, ließen neue, in Nidden entstandene Bilder sehen.

Die Presse zeigte großes Interesse an der internationalen Gruppe. Ein Fotograf der Tageszeitung "Bakaru Ekspresas" machte etliche Fotos, wie auf den Balkonen oder in den Zimmern gemalt wurde. Wieder wurden die deutschen Maler hervorgehoben, und daß Karina Stängle in Königsberg geboren ist. Am nächsten Tag erkannten die Deutschen sich auf der Kulturseite der Zeitung. Es wurde auch auf ihre Ausstellung aufmerksamgemacht. Bei den Ahrenshoopern erschien ein Team des litauischen Fernsehens.

In Memel und Nidden tagte in diesen Tagen gerade EuroArt, ein Zusammenschluß vieler ehemaliger Künstlerkolonien, Orte wie Ahrenshoop und Worpswede. An einem Tag wurde das Symposium im Kulturzentrum von Nidden abgehalten. Der Vertreter der Stadt Ahrenshoop gab Ratschläge, wie man Touristen nach Nidden ziehen könnte; beispielsweise durch die Anwesenheit bekannter Maler. Die Folge war eine harte Diskussion über das Für und Wider von Touristenströmen in das Landschaftsschutzgebiet.

An einem Tag waren die vier mit Maja Ehlermann-Mollenhauer, der Tochter des berühmten Malers und Gastwirts des Blode-Hauses Ernst Mollenhauer, im Blode-Museum verabredet. Sie bekamen eine Geschichtsstunde über das Memelland und die Kurische Nehrung vom Jahr 800 und der Zeit der Pruzzen. Sie erfuhren viel Unbekanntes und waren überrascht über die unruhige Geschichte dieses Landstriches. Maja Ehlermann-Mollenhauer kannte noch die lebendige "Sandakademie", die von ihren Eltern unterstützt wurde. Ein anderes Mal kam beim Besuch der internationalen Gruppe im Blode-Museum ein Fernsehteam hinzu. Während Maja Ehlermann-Mollenhauer ihren Vortrag über die Geschichte und das Museum hielt, wurde gedreht und interviewt und übersetzt, alles zum Thema Landschaftsschutz und Weltkulturerbe.

Für einen Tag hatte Karina Stängle eine Bootsfahrt übers Haff ins Memeldelta bestellt, sofern denn das Wetter dieses zuließe. Der Kapitän brachte sie im Memelland zuerst zur Pumpstation Kuvertshof. Die Station ist noch aus "Kaisers Zeiten". Wenn sie nicht als Museum eingerichtet wäre, könnte sie noch heute ihren Dienst tun. Sie pumpte das Wasser der Drainagegräben des tiefergelegenen Memeldeltas in das Haff.

Es gab auch einen Litauischen Abend als Dankeschön. Viele Sponsoren waren zu Gast. Bankett, Sauna, Swimmingpool wurden geboten. Es erinnerte an jene Feste, die damals im Blode-Gasthaus stattfanden, als die Tänzerin Palucca auf dem Tisch tanzte.

Die Abschlußausstellung mit den in Nidden gemalten Bildern wurde in bewährter Art von den Ausstellungsmachern gehängt. Manche Arbeiten entstanden plein air in den Dünen naturalistisch oder stark verändert, abstrahiert; pastose Collagen wurden gezeigt, mutig abgewandelte Landschaften. Die Eröffnung nahm auch hier den bekannten Lauf: Die Moderatorin übersetzte die Reden der Offiziellen der Stadt, des Kurators, des Vertreters der Stadt Ahrenshoop. Es wurden Gratulationen und Dankesworte gesprochen. Jeder der Gruppe bekam ein Diplom überreicht und die Deutschen wurden zu Mitgliedern von "Tiltas" ernannt. Ein Ausweis belegt dies. Ein wenig Stolz kam bei Karina Stängle schon auf, daß sie es geschafft hat, diesen Kontakt aufzubauen.

Im Rahmen des Programms zeigte Saulius im Kinosaal Fotos seiner besonderen Ausstellung in Königsberg , für die er mittlerweile so nicht mehr existente Stadtteile der Pregelmetropole aus Anlaß des Jubiläums 750 Jahre Königsberg in Modellen exakt nachgebaut hat, darunter auch den Dom und auch das Schloß. Die Exaktheit der Darstellung ist staunenswert und muß viel Mühe und auch Zeit in Anspruch genommen haben. Wo könnte man es in der Bundesrepublik Deutschland zeigen? Karina Stängle versprach, sich darum zu kümmern.

Am letzten Abend wurden die Adressen ausgetauscht. Versprechungen wurden gemacht. Hoffnungen keimten.

Saulius beschenkte die deutschen Gäste mit litauischen Lyrik- und Prosa-Bänden, oft zweisprachig. Alle Bücher sind von Verlagen gesponsert. Jedes erhält den besonders schönen Stempel von "Tiltas". Das Gepäck der Deutschen nahm an Gewicht ordentlich zu.

Mit vielen Fotos, Umarmungen, Küssen, Handküssen nahm man Abschied voneinander und versprach, sich wiederzusehen. K. S.

Das Kleeblatt: Ingrid Kaftan, Bärbel Pietrzyk, Karina Stängle und Waltraud Schwarz
 
     
     
 
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