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Ein Tschekist im Kreml

 
     
 
Wenige Wochen nach dem Beginn der bolschewistischen Oktoberrevolution wurde am 20. Dezember 1917 die Tscheka, die "Allrussische außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage" geschaffen. Ihr Gründer war der Sohn einer polnischen Gutsbesitzer- und Intellektuellenfamilie mit Namen Felix Dscherschinski. Von diesem "Eisernen Felix", der in seiner Kindheit Priester werden wollte, stammt die bis heute gültige Beschreibung der Charaktereigenschaften eines sowjetisch
en/russischen Geheimdienstoffiziers: "Ein Tschekist kann nur ein Mann sein mit kühlem Kopf, heißem Herzen und sauberen Händen."

Trotz aller Umbenennungen, die der sowjetische und in weiterer Folge der russische Geheimdienst im Laufe seiner Geschichte erfahren hat, nannten sich die KGB-Offiziere Tschekisten, erhielten sie ihre Gehälter am Gründungstag der Tscheka, blieb das Emblem mit Schild und Schwert bestehen: der Schild symbolisierte die Verteidigung der Revolution, das Schwert die Vernichtung ihrer Feinde. Nach seinem Jura-Studium in Leningrad/St. Petersburg ist auch Wladimir Putin im Jahre 1975 ein Tschekist geworden, wobei abgesehen von seinem Aufenthalt in Deutschland über die Jahre bis 1990 nur wenig bekannt ist. Mit Wladimir Putin führt nach Jewgenij Primakow und Sergeij Stepaschin zum dritten Male binnen eines Jahres ein ehemaliger Geheimdienstchef die Geschicke Rußlands als Ministerpräsident. Wladimir Putin, seit 31. Dezember amtierender russischer Präsident, könnte außerdem – so er im März zum Präsidenten und Nachfolger Boris Jelzins gewählt wird – auch der zweite Geheimdienstchef in der Geschichte Rußlands sein, der nach Juri Andropow die höchste Macht im Staate erreicht.

Andropows Ziel als Generalsekretär der KPdSU war es, das sowjetische System zu modernisieren, hatte doch gerade der KGB in den achtziger Jahren das enorme Ausmaß der Rückständigkeit gegenüber der kapitalistischen Welt erkannt. In dieser Traditionslinie dürfte auch Putin stehen, der die Rückständigkeit Rußlands ungeschönt schildert, den Zwang zu Reformen betont und gleichzeitig mehr "Ordnung" verspricht. Wohl nicht zufällig ist zum Jahresende eine einst entfernte Andropow-Gedenkplatte wieder an ihrem alten Platz, dem Hauptsitz des Geheimdienstes an der Moskauer Lubjanka, angebracht worden.

In welchem Ausmaß Putin ein wahrer Tschekist und im Fall seiner wahrscheinlichen Wahl ein erfolgreicher Präsident sein kann, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie "sauber" seine Hände sind beziehungsweise sein können, ist er doch im Dunstkreis von Jelzins korruptionsverdächtiger "Familie" zur höchsten Macht im Staate aufgestiegen. Die Fähigkeit zur Emanzipation wird auch die Frage beantworten, ob Putin sich in die lange Liste gescheiterter Wirtschaftsreformer wird einreihen müssen oder nicht. Die wirtschaftliche Aufgabe, die der 47jährige Putin lösen muß, besteht grundsätzlich darin, die Herrschaft einer korrumpierten Oligarchie zu brechen, die den Rohstoffreichtum ausbeutet, sowie Rußland zu einer funktionierenden Marktwirtschaft zu machen. Die bisherigen personellen Umbesetzungen, die Putin in der Kreml-Bürokratie vorgenommen hat, sind noch kein ausreichendes Indiz für diese Emanzipation, weil die Zuständigkeiten nur in einem weitgehend gleichgebliebenen Personenkreis neu verteilt wurden.

Putins zum Jahreswechsel veröffentlichtes Programm, das Rußland den Weg ins neue Jahrtausend weisen soll, ist in seinen wirtschaftlichen Abschnitten widersprüchlich. Eine klare Abrechnung mit den Fehlern der (sowjetischen) Vergangenheit kontrastiert mit inkonsistenten Rezepten für die Zukunft, wobei das geschätzte russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Relation zur Kaufkraftparität mit etwa 500 Milliarden US-Dollar gegenüber den USA um das Zehnfache und gegenüber China um das Fünffache zurückliegt. Doch nicht nur quantitativ und strukturell unterscheidet sich die russische Wirtschaft von den führenden Industriemächten. So gibt Putin in seinem Programm an, daß die Energiewirtschaft inklusive Metallurgie 15 Prozent des BIP sowie die Hälfte der Industrieproduktion erzeugen und 70 Prozent der Exporte bestreitet; ein klares Indiz für die niedrige Produktivität der verarbeitenden Wirtschaft und des Dienstleistungssektors. So unklar wie sein Wirtschaftsprogramm sind auch Putins Ausführungen zur "russischen Idee", ein Begriff, dem der Philosoph Nikolaj Berdjajew im Jahre 1946 ein höchst lesenswertes und nach wie vor aktuelles Buch gewidmet hat.

In dem zitierten Programm schreibt Putin: "Ein Hauptgrund, weshalb die Reformen bei uns so langsam und mühsam verlaufen, liegt in der Abwesenheit gesellschaftlicher Eintracht." Putin wendet sich gegen die Rückkehr einer von oben verordneten Staatsideologie, betont aber gleichzeitig die Notwendigkeit einer neuen "rußländischen Idee". Putin verwendet dabei das Wort "rossiskaja", das im Gegensatz zu "russkij" keine ethnisch-nationale Bedeutung hat. Diese Staatsidee sieht Putin als Mischung aus universalen Werten (Redefreiheit, freies Unternehmertum) und den "traditionellen Werten der Bewohner Rußlands". Dazu zählt Putin Vaterlandsliebe, soziale Solidarität sowie das Bekenntnis zur Großmachtrolle und die Notwendigkeit eines starken Staates: "Rußland wird nicht so bald, wenn überhaupt, zu einer Kopie der USA oder Englands, wo liberale Werte lange historische Traditionen haben. Ein starker Staat ist für einen Russen keine Anomalie, nicht etwas, mit dem man kämpfen muß, sondern im Gegenteil der Garant für Ordnung und Initiator für jegliche Veränderungen." Zur Wiederherstellung dieses starken Staates dient auch die Militäraktion in Tschetschenien, deren siegreicher Abschluß für Putin den "Zerfall Rußlands" endgültig stoppen soll. Inwieweit Putin, der seine Popularität diesem Krieg, aber auch seinem jugendlichen und unverbrauchten Image verdankt, nach seiner Wahl zum Präsidenten eine politische Lösung im Kaukasus herbeiführen kann, wird ein weiterer Prüfstein für Erfolg oder Mißerfolg seiner Amtszeit sein. Daß zu den Säulen dieses starken Staates neben dem Sicherheitsapparat auch die Streitkräfte zählen, hat Wladimir Putin wiederholt deutlich gemacht. In einer Rede vor Studenten der Moskauer Lomonossow-Universität befaßte sich Putin am 1. September 1999 mit den Lehren, die Rußland aus dem 20. Jahrhundert ziehen sollte. Gleich zu Beginn stellte er dabei die rhetorische Frage, warum das zaristische Reich den Krieg gegen Japan verloren habe. Putins Antwort: Die Niederlage sei hauptsächlich darauf zurückzuführen, "weil es unmöglich ist, in das neue Jahrhundert mit einer alten Armee einzutreten". Mit diesem Hinweis begründete Putin den hohen Stellenwert, den er einer Reform der Streitkräfte beimißt. In dem Zusammenhang ist auch das neue Sicherheitskonzept zu erwähnen, das Putin knapp nach seiner Amtsübernahme unterzeichnet hat. Darin werden die Kampfbereitschaft und die operativen Fähigkeiten der Streitkräfte als "kritisch niedrig" bezeichnet. Erhöht werden sollen daher die Rüstungsausgaben und die Rolle der Atomwaffen. Diese sollen nunmehr eingesetzt werden, wenn im Falle einer bewaffneten Aggression alle anderen Mittel erschöpft sind oder sich als unwirksam erwiesen haben. Die bisherige Formulierung lautete, daß Rußland einen atomaren Einsatz nur dann in Betracht ziehen werde, wenn eine Gefahr für die "Existenz Rußlands als souveräner Staat" besteht. Diese Neufassung läßt sich auch als Senkung der Schwelle für einen Atomkrieg interpretieren, eine Einschätzung, der von russischen Militärs jedoch widersprochen wird. Dies deutet darauf hin, daß die Diskussion über diese Frage noch nicht abgeschlossen ist. Im Vordergrund stehen in diesem neuen Sicherheitskonzept allerdings nicht äußere Faktoren, sondern der Kampf gegen die wirtschaftliche Schwäche Rußlands, wobei auch die Gefahren des Terrorismus, der Kriminalität und der sozialen Spannungen stärker betont werden als früher. Trotzdem bleibt dieses Dokument, das das Dominanzstreben des Westens und der USA beklagt, Ausdruck der deutlich abgekühlten Beziehungen zum Westen. Putins präsidialer Vorgänger Boris Jelzin war ein Mann der Zeitwende. Die Niederschlagung des Augustputsches 1991, die Auflösung der Sowjetunion als endgültiger Sieg über Michail Gorbatschow, die Niederschlagung des Umsturzversuches im Herbst 1993, seine Wiederwahl im Jahre 1996 bis hin zu seinem spektakulären Rücktritt am 31. Dezember sind untrennbar mit der Person Boris Jelzin verbunden. Seine Erfolge in all diesen kritischen Momenten führten zur Auflösung der Sowjetunion und ließen die Versuche einer roten Restauration scheitern. Gleichzeitig personifizierte Jelzin mit seinen halbherzigen Reformen und mit seiner Krankheitsgeschichte die Zeit der Wirren und die Schwäche Rußlands, das sich aus seinem postimperialen Trauma lösen und zu neuer Identität finden muß. Mit Wladimir Putin könnte diese fast zehnjährige Periode zu Ende gehen. Dank seiner Vitalität und einer klaren Parlamentsmehrheit könnte Putin zum berechenbareren, aber auch härteren Partner des Westens werden. Neben atomarer Abrüstung (Ratifizierung von START II, Verhandlungen über START III) und Rüstungskontrolle sollten vor allem Putins Kampf gegen soziale Verelendung sowie gegen Rechtsunsicherheit und Willkürherrschaft sowie seine Bereitschaft zur weiteren Integration Rußlands in die Weltwirtschaft Gradmesser des Westens für den Umgang mit dem künftigen russischen Präsidenten sein.

 
     
     
 
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