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Eine nebulöse Liebesgeschichte

 
     
 
Es war ein abscheulicher Nebel, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Ich bedauerte die Schiffer unten auf dem Fluß ebenso wie die Autofahrer, die sich im Kriechtempo über die Brücke tasteten. Als ich das Mädchen sah, das sich über das Geländer beugte und hinunter ins Wasser starrte, bedauerte ich auch das Mädchen. Es lag nahe, bei diesem Nebel Mitleid zu haben mit allem und mit jedem.

Vorsichtig näherte ich mich dem Mädchen, hüstelte bedächtig, um es nicht zu erschrecken, und sagte: "Kann ich Ihnen helfen?" Sie fuhr herum, blaß, mit großen Augen, hatte sich wahrscheinlich sehr erschrocken und fragte: "Was ist los? Wieso quatschen Sie mich hier an? Glauben Sie ja nicht, Sie könnten mir Angst machen. Ich habe mehrere Karate-Kurse
hinter mir."

"Sie müssen sich nicht erschrekken", sagte ich. "Ich habe mich überhaupt nicht erschrocken", erwiderte das Mädchen. "Erschrocken haben Sie sich wahrscheinlich. Sie dachten, ich sei lebensmüde. Aber da kann ich Sie beruhigen. Ich bin schließlich nicht bescheuert, in diese trübe Suppe da unten zu springen. Ich bin nur zum Vergnügen hier. Denn ich liebe den Nebel." Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

Ich lächelte ebenfalls. "Dann ist ja alles in Ordnung", sagte ich. "Ich hatte schon befürchtet, ich müßte hinterherspringen, um Sie zu retten. Ein schrecklicher Gedanke - bei diesem Wetter!" - "Und dann stehen Sie da - in nassen Klamotten!" sagte das Mädchen. "Aber ehrlich - ich bin nur hier wegen des Nebels. Mir kann kein Nebel dick genug sein, ich find s herrlich! Dann ist alles so verschleiert, wissen Sie! Ich hab auch diese englischen Filme gern, weil fast immer Nebel in ihnen vorkommt. Häuser, in denen es nicht mit rechten Dingen zugeht", fügte sie hinzu, "und Nebel ..." - "Ein Trick!" sagte ich. "Klopfgeister auf alten englischen Landsitzen, Gewitter und Nebel - das sind alles nur Tricks, mit denen die Produktionsleiter und die Regisseure ihr Publikum übers Ohr hauen. Ich finde, man sollte nüchterner darüber denken. Nebel ist ja letzten Endes nichts anderes als eine der Formen, unter denen sich der in der Luft befindliche Wasserdampf in tropfflüssigem Zustand aus derselben ausscheidet. Man kann die Sache auch anders ausdrücken. Nebel bildet sich, wenn feuchte Winde über eine Strecke der Erdoberfläche hinwegstreichen, die kälter ist als diese Winde."

"Sind Sie Meteorologe?" - "Nein, Schriftsteller. Ich schreibe über alles mögliche, auch über das Wetter. Ich stelle jeden Morgen das Radio an und höre den Wetterbericht. Manchmal öffne ich auch nur das Fenster, und wenn ich sehe, daß es regnet ..."- "Bemerken Sie eigentlich gar nicht", sagte das Mädchen, "daß ich anfange zu zittern? Ich friere! Aber ich weiß hier in der Nähe ein kleines Lokal ..."

Dann saßen wir in jenem Lokal und tranken Rumgrog. So etwas wie dieses Mädchen war mir noch nie begegnet. Sie war nicht sonderlich hübsch, aber auch nicht häßlich. Sie hatte einen interessanten Mund und herrliche Zähne sowie eine wunderbare nebulöse Stimme. Sie hieß Ingrid, und sie liebte den Nebel. Nach dem dritten Rumgrog sprachen wir über die Liebe. Das heißt, ich machte den Anfang. Ich gebrauchte eine althergebrachte Redewendung, mit der ich das Thema geschickt einzuleiten versuchte. Ingrid jedoch stieß die Luft durch die Nase. "Liebe!" sagte sie. "Sie wissen ja gar nicht, was Liebe ist! Wie können Sie das auch wissen als Schriftsteller? Sie schreiben Bücher und erfinden das alles nur ..."

"Liebe ist", sagte ich, "wenn zwei Menschen ..."- "Liebe ist", sagte Ingrid, "Leidenschaft! Die Kraft der Liebe ist gleichsam der Quell der Poesie. Die Liebe weiß alle Hindernisse des Lebens zu überwinden, wenn sie in Verbindung mit der elementaren Gewalt der Leidenschaft einhergeht. Liebe ist die

Poesie des Sehnens, der Hingebung ..."

"So kann nur eine Frau sprechen", sagte ich, "die selbst verliebt ist!" - "Quatsch!" erwiderte Ingrid. "Ich bin Platzanweiserin im Gloria-Kino! Meist laufen da Liebesfilme - Sie glauben s nicht!"

Nach dem sechsten Rumgrog verließen wir etwas schwankend das Lokal. Es schien, als hätte der Nebel zugenommen. Manchmal frage ich mich, ob ich das alles nicht nur geträumt habe. An irgendeinem besonders nebligen Tag ...
 
     
     
 
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