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Erzählungen

 
     
 
"He du, bist du nicht ..."
Von WILLFRIED ROYLA

Das diesjährige Ostdeutschlandtreffen wird sich durch viele Gegebenheiten von den bisherigen in Düsseldorf zweifelsohne in besonders positiver Weise abheben. Diese Pfingsttage könnten für die Teilnehmer zu den eindrucksvollsten und außergewöhnlichsten werden. Viele, die sich wahrscheinlich vor oder auf der Flucht ein letztes Mal sahen, werden da eine ganz unerwartete Wiederbegegnung mit den in Mitteldeutschland Verbliebenen erfahren. Vielleicht so oder in ähnlicher Weise wie es mir passierte, als ich nach Hagen fuhr, um dort am Treffen der Lycker teilzunehmen.

In der Stadt angekommen, sah man die Lycker, erkennbar an der Plakette, in allen Straßen. Doch das Gros pilgerte bereits zielstrebig der Stadthalle zu, um pünktlich am Haupttreffen teilzunehmen. Schloß man für Momente die Augen, so vermittelte einem die Geräuschkulisse das Gefühl, im Entenstall zu sein.

Schabber, schabber, schabber .... In der riesengroßen, festlich geschmückten Halle, die schon gut gefüllt war, gab es auch nach gut 50 Jahren immer wieder Augenblicke herzbewegender Begegnungen des Wiedersehens. Und so schlenderte auch ich erst einmal auf den Gängen zwischen den Tischen einher, um einzelne Gesichter in Augenschein zu nehmen. Vielleicht hockt da womöglich doch noch ein nicht erkannter Schulfreund oder jemand aus der Nachbarschaft.

Das, was ich kaum erwartet hatte, geschah. "He du, bist du nicht einer von den Roylas?" rief mir jemand nach. Eigentlich hätte ich mich in jenem Augenblick blitzschnell wie eine frisch geschmierte Achse umdrehen müssen. Weit gefehlt. Erschrocken blieb ich stehn, so als wäre ich bei einer Untat ertappt worden. Nur langsam löste sich die eingetretene Starre. Im Zeitlupentempo wandte ich mich dem Rufer zu.

Wir kamen, nachdem ich mich zu ihm setzte, schnell ins Gespräch. Seine Mutter war eine geborene Royla, er also einer aus dem großen Kreis der Verwandtschaft. Gesehen haben wir uns ein letztes Mal 1944, als ich noch ganze elf Jahre jung war.

"Ich weiß noch, wie deine Mutter aus frisch gepflückten, ganz jungen Nadeltrieben der Fichte einen sektähnlichen Wein zauberte."

Mir war’s, als hätte ich statt des Gesagten soeben die Geisterstimme aus Robert Lembkes Ratespiel "17 und 4" gehört. "Sag mir das noch mal!" bat ich. "Wieso, hast du es nicht verstanden?" "Doch schon!" antwortete ich. "Aber ich habe Mühe, das auch zu verinnerlichen."

Als er es wiederholte, spürte ich, wie mir heiß und kalt wurde. Ich zitterte vor Freude und fühlte, wie mir das Wasser in die Augen trat.

"Meine Güte", stieß ich hervor und ließ mich, um durch die innere Gefühlsregung nicht vollkommen die äußere Fassung zu verlieren, in die Stuhllehne zurückfallen. "Dann habe ich mir das doch nicht eingebildet." "Was?" "Nun, daß wir stets im Frühjahr mit Mutti im Wald die noch ganz weichen Triebe der Fichtennadeln gepflückt haben."

Vor meinem inneren Auge zogen längst vergangene Augenblicke nebelhaft vorbei. "All’ die Jahre war ich mir nicht sicher, ob es eine echte Erinnerung oder ein Phantasiegebilde war." "Es war tatsächlich so – und das Ergebnis", meinte er, "waren in jedem Jahr gut zwei Dutzend Flaschen."

Ich beugte mich über den Tisch hin zu ihm. "Wie hat er, der Wein, denn geschmeckt?" fragte ich.

"Nur zu besonderen Anlässen verschenkte deine Mutter diesen Zaubertrank. Meine Eltern erhielten davon jeweils eine Flasche zum Geburtstag. Wir Kinder – obwohl ich damals schon 15 war – kamen da nicht ‘ran." "Erinnerst du dich vielleicht noch an die Rezeptur?"

"Wie könnte ich es vergessen." Er lachte still in sich hinein. "Deine Mutter hat daraus nie ein Geheimnis gemacht. Viele haben es probiert, aber keiner hat es vollbracht."

Mit geschlossenen Augen – als wolle er einen kunstgerechten Vortrag halten – legte er los: "Fünf Kilo Fichtennadeln durchpressen und mit fünf Liter kochendem Wasser übergießen. Das Ganze vierundzwanzig Stunden ziehen lassen ..."

Nachdem seine Aufzählung aller Zutaten und einiger alchemistischer Tricks endete, öffnete er die Augen und machte den Eindruck, als müßte er erst wieder in die Gegenwart zurückfinden. "Aber," fuhr er fort, "das Geheimnis der Zubereitung dieses sagenhaften Weines war wohl weniger die Rezeptur, als vielmehr der Zeitpunkt, an dem die Nadelspitzen zu pflücken waren. Sie durften einen gewissen Reifeprozeß noch nicht erreicht, ihn aber auch noch nicht überschritten haben."

Wer weiß, was mich in Leipzig erwartet, welch’ krummpuckliger Lachudder mir dann da zuruft: "He, du ....", oder eine liebliche Marjell mich mit großen fragenden Augen anschaut: "Bist du’s oder bist du’s nicht?" "I wo ja nu doch!" werde ich dann wohl antworten.

 

Die fünfte Bank
Von SIEGFRIED WALDEN

Es ging auf Mitternacht. Sie standen unter der Straßenlaterne, deren Glas der warme Sommerwind leise rüttelte. Irgendwo in der Ferne erklang der Gong einer Kirchturmuhr.

"Es wird Zeit, daß wir uns verabschieden", sagte Vera. Auch Angelika war dafür. Fred und Werner hätten die Plauderei gerne noch fortgesetzt.

"Bis nächsten Sonnabend, einundzwanzig Uhr", sagten die beiden Männer und riefen den Mädchen nach: "Treffpunkt an der fünften Bank im Stadtpark. Und falls ihr nicht kommen könnt, schickt Veras Bruder zur Bank, damit er dort einen Zettel für uns hinterlegt."

Froh gestimmt schritten Fred und Werner am folgenden Sonnabend durch den in der Dunkelheit liegenden Stadtpark und zählten: "Erste Bank, zweite Bank …" Dann standen sie vor der fünften Bank. Sie war – leer.

"Fred", sagte Werner, "hier stimmt etwas nicht. Wir haben nicht richtig gezählt. Es kann nicht sein, daß die Mädchen ihr Wort nicht gehalten haben." Auch Fred war unsicher, als er sprach: "Es wird schon so sein, daß wir uns verzählt haben, obwohl uns das noch nie passiert ist."

Die Männer überlegten, und Fred hatte eine tolle Idee: "Ich bleibe hier", sagte er, "und du gehst zur nächsten Bank. Wenn einer von uns die Mädels sieht, ruft er den anderen."

Da saßen die beiden nun, Fred auf Bank fünf und Werner auf Bank sechs. Und schon bald ertönte von der Bank Nummer sechs ein Ruf. "Schnell, Fred, komm her, ich habe einen Zettel gefunden", rief Werner, als er den Freund in der Dunkelheit erkannte.

"Fein", erwiderte Fred, "wir haben ja gleich gesagt, die Mädchen lassen uns nicht im Stich. Wo ist denn mein Feuerzeug? Ach, da, ich hab’ es schon." Die beiden jungen Männer konnten es kaum erwarten, die Mitteilung der Freundinnen zu lesen.

Da saßen sie nun wieder, dieses Mal zusammen auf der Bank Nummer sechs. Fred und Werner waren Freunde und schon immer unzertrennlich, da zeigte sich auch jetzt wieder im Stadtpark. Sie klebten förmlich zusammen, als Fred im flackernden Licht des Feuerzeuges den Zettel las: "Vorsicht, frisch gestrichen!"

 

Das rote Organdykleid
Von CHRISTEL BETHKE

Die Mutter hatte keine Zeit, sich um die Vierzehnjährige zu kümmern. Sie war mit den beiden jüngeren Kindern beschäftigt, denn es galt, aus dem, was man sein Heim nannte, nur das auszusuchen, was man für wichtig hielt. Da galt es erst mal, die Kinder anzuziehen, die an anderen, normalen Tagen um diese Zeit ausgezogen und bettfertig gemacht wurden. Die Mutter zog ihnen alles doppelt an: Strümpfe, Hosen
, Pullover und darüber die Mäntel, die dickste Mütze und die Fausthandschuhe.

Was nimmt man zu essen mit? Was kann man tragen, wenn man zwei kleine Kinder an die Hand zu nehmen hatte? Die Mutter steckte zwei Brote in einen Rucksack und tat eine halbe Seite Speck dazu, die sie von den Großeltern der Kinder bekommen hatte.

Und wie kommt man weg? – Irgendwie waren sie in der kleinen Stadt vergessen worden, und sie hatten auch den Beteuerungen, daß es nicht zur Flucht kommen würde, zu gerne geglaubt. Dabei war es absehbar gewesen. Seit Monaten zogen die Trecks durch die Stadt, Tag und Nacht. Die Kleinbahn, die zu den größeren Bahnhöfen mit D-Zug-Anschluß fuhr, hatte schon vor einer Woche ihre Fahrten eingestellt. Dann war es plötzlich klar und ließ eine Art Panik aufkommen, es war ernst …

Anna, die Große, wie ihre Mutter sie oft nannte, sah in dem ganzen Unternehmen mehr ein Abenteuer und beeilte sich nicht sonderlich, suchte nach ihrem Poesiealbum, das sie unbedingt mitnehmen wollte, holte die Büchertasche und war ganz froh, denn es war nicht sicher, ob sie Ostern versetzt werden würde. Sie war im letzten Halbjahr oft krank gewesen und hatte nicht am Unterricht teilnehmen können.

Nun anziehen. Über den heißgeliebten Trainingsanzug das Organdykleid. Den Stoff hatte der Vater zu ihrem vierzehnten Geburtstag aus Belgien geschickt. Frau Wittke hatte daraus ein Kleid für Anna genäht. Sie mochte es eigentlich nicht besonders gern. Ihre Freundinnen allerdings beneideten sie darum, und die beste durfte es sogar anprobieren. Aber es war ein Geschenk des Vaters, der seit einiger Zeit als vermißt galt. Da wollte sie das Kleid unbedingt mitnehmen! Als sie den Mantel überzog, der nun viel zu eng saß, merkte sie, daß die Schärpe unten hervor sah. Während die Mutter schon überlegte, ob sie die Haustür abschließen sollte oder nicht, rannte Anna noch einmal in das kleine Zimmer, in dem das Vertiko stand. Sie zog die Schublade auf, fand die Schere und ohne zu zögern schnitt sie beide Enden der Schärpe ab.

Draußen auf der Straßen stauen sich Militärautos und der Treck der Flüchtlinge. Hoffnungslos da reinzukommen!

Aber sie haben Glück. Ein Soldat, durch eine Blechmarke auf der Brust als Feldgendarm kenntlich, verhilft ihnen zu einem Platz auf einem offenen Lastwagen. Als sie am Haus der Großeltern vorüberkommen, das kaum zweihundert Meter von ihrem entfernt ist, schaut niemand von ihnen hin. Im Gegenteil, sie schauen weg. Nicht daß es zu dunkel gewesen wäre. Der Mond gab an dem Abend sein Bestes, und es war hell.

Die Großmutter konnte sei Jahren nicht mehr laufen und erledigte alle anfallenden Arbeiten im Sitzen. Was konnte man da schon machen?

Ihre Fahrt dauerte nicht lange. Sie mußten bald absteigen, weil sich der Wagen festgefahren hatte und den Treck behinderte. Sie übernachteten in einer Turnhalle, reihten sich wieder ein, warfen sich in den mit Schnee gefüllten Straßengraben, wenn die Tiefflieger kamen. Wenn sie rasteten, verteilte die Mutter Brotscheiben, auf die sie den mit einem Messer abgeschabten Speck strich. Es reichte gerade, bis sie von der Roten Armee überrollt wurden.

Eigentlich hatten sie auch genug von der ganzen Flucht und wollten heim. Die Mutter erinnerte sich an den Russeneinfall im ersten Krieg, der nicht allzulange gedauert hatte; vielleicht war ihr Fluchtversuch deshalb nicht drängender gewesen.

Nach ihrer Rückkehr verging bis zu ihrer Ausweisung etwas mehr als ein Jahr. Was sich in dieser Zeit zutrug, verschwand im Schweigen. Um weiter leben zu können, muß manch einer verdrängen. Gründlich.

Anna, heute über siebzig, antwortet auf die Fragen der Freundin – es ist die, die das rote Kleid anprobieren durfte – nicht. "Kannst mich totschlagen. Ich habe alles vergessen. Nur das weiß ich noch. Das Haus der Großeltern stand nicht mehr, als wir zurückkamen. Am allerschlimmsten finde ich", sagte sie, "daß wir am Abend der Flucht wegsahen." Dann fügt sie hinzu: "Das werde ich mir nie verzeihen."

Bei uns verhielt es sich ähnlich, denkt die Freundin. Nur wir hatten mehr Glück, wenn man das so nennen kann und den Verlust eines Menschen zu tragen hat. In unserer Familie wurde auch nicht gefragt, wo geht ihr hin. Wie kommt ihr weg? Bei uns sah auch jeder weg. Sicherlich war es sicherer fortzukommen, wenn der Trupp nicht zu groß war, trotzdem finde ich das auch unverzeihlich.

Anna und die Freundin erinnerten sich an das Organdykleid, als sie neulich vor einer blühenden Kamelie standen, die genau das Rot des Kleides hatte …

 
     
     
 
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