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Frankreich: Vor dem dritten Wahlgang

 
     
 
Die Abneigung, bisweilen sogar der Haß unter den bürgerlichen und rechten Parteien in Frankreich gehört zu den meistunterschätzten Größen der französischen Politik. Sie ist oft stärker als die Abneignug gegen den Gegner von links. Am 5. Mai allerdings kam diese Größe dem amtierenden Präsidenten Jacques Chirac zugute. Er fuhr ein historisches Ergebnis ein, weil auch viele linke Wähler für ihn stimmten. Eine schwache Wahlbeteiligung, was dem linken Kandidaten Jospin zwei Wochen zuvor zum Verhängnis wurde, hätte auch diesmal für eine Überraschung sorgen können. Denn wenn sich viele linke Wähler gesagt hätten, Chirac ist sowieso gewählt, weshalb soll ich mir den Tort antun und auch noch für ihn stimmen, dann wäre dies dem Rechtsaußen Le Pen erneut zupaß gekommen und hätte Akzente gesetzt für die Parlamentswahlen in fünf Wochen.

Für die Linke war die Wahl ein Dilemma. Manch einer verfiel ins Grübeln darüber, wie er für den konservativen Amtsinhaber
Jacques Chirac stimmen und zugleich seinen Protest äußern könnte. Auf der Website "commentvoterchirac.com" fanden sich kuriose Vorschläge: rückwärts das Wahlbüro betreten, Trauerflor tragen, den Stimmzettel mit Handschuhen einwerfen, mit einer Wäscheklammer auf der Nase oder mit der linken Hand hinter dem Rücken abstimmen. Aber der Verfassungsrat schlug solche skurrilen Vorschläge bereits im Vorfeld in den Wind. Das Wahlgeheimnis verbiete derartige Protestformen. Außerdem: Wenn Wähler mit Handschuhen oder Wäscheklammern auf der Nase gefilmt würden, könne das als "Wahlpropaganda" aufgefaßt und von Le-Pen-Anhängern angefochten werden. Darüber hinaus droht bei Verletzung des Wahlgeheimnisses eine Geldstrafe von 15.000 Euro. Also ging man frustriert aber entschlossen zur Wahl. Das Ergebnis war der erwartete Triumph für Chirac, ein historisches Ergebnis.

Aber die Posaune, die den Triumph verkündet, ist noch verstopft. Chirac ist noch nicht am Ziel. Zwar erschien er jetzt als der de Gaulle im neuen Jahrhundert, als Retter der Republik. Nicht daß die Republik ernsthaft in Gefahr gewesen wäre. Die rechte Strömung hat nie mehr als fünf bis sechs Millionen Wähler erfaßt, einschließlich der Protestwähler. Le Pen bekam jetzt noch die Stimmen seines internen Konkurrenten Megret und damit war sein Potential erschöpft. Auch am 21. April hatten beide zusammen nicht mehr als fünfeinhalb Millionen Franzosen hinter sich versammeln können. Aber Chirac muß jetzt noch die Parlamentswahl gewinnen, um Frankreich aus der Lähmung der Cohabitation herauszuführen.

Die Chancen dafür stehen fünfzig zu fünfzig. Für Chirac spricht die momentane Stimmungslage. Der Schock des ersten Wahlgangs hat Frankreich und die politische Klasse an die Grundwerte erinnert. Der ewige Volkstribun Chirac erkannte den Kairos. Schon am Abend des 21. April sprach er von diesen Grundwerten, die es zu verteidigen gelte, von der Republik, für die alle zusammenstehen müßten, von der Grandeur Frankreichs, die auf diesen Ideen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit beruhe. Diese Grundwerte Frankreichs, die auch die europäischen Grundwerte sind, rückte Chirac wieder an die erste Stelle. Es folgte ein Stimmungsaufbruch. Frankreich aus der grauen Welt der politischen Korrektheit Europas erlösen, die im Grunde nur die verbale Decke von Feigheit und Verlogenheit ist, und so dem Land und Europa ein menschliches Antlitz geben, diese Grandeur war und ist der geheime Wunsch der Franzosen. Chirac versteht es, diese Saiten der französischen Seele zum Stimmen, ja zur Abstimmung zu bringen. Er war auch insofern glaubwürdig, als er ein Bündnis mit Le Pen oder dem Front National immer abgelehnt hatte, auch auf regionalem oder kommunalem Niveau. Davon könnten die großen Mitte-Parteien Deutschlands lernen, etwa mit Blick auf die PDS.

Die große Welle der Sammlungsbewegung, auf deren Spitze Chirac nun unversehens surft, wird ihn in den nächsten Wochen weitertragen. Aber alles kommt darauf an, ob es Chirac gelingt, das Momentum bis in die Parlamentswahlen hinein zu lenken. In den Alltag der Menschen übersetzt lauten die großen Werte nämlich: Innere Sicherheit, gerechte Steuern, sichere Renten, Arbeitsplätze. Das sind die Hauptprobleme der Franzosen. Um sie zu lösen braucht Chirac eine solide Mehrheit im Parlament. Die aber ist keineswegs sicher. Zwar versperrt das Mehrheitswahlrecht Le Pen den Weg in die Nationalversammlung, aber das Wahlsystem hat eine Besonderheit, die auf die trickreiche Politik Mitterrands zurückgeht. Mitterrand hatte zunächst das Mehrheitswahlrecht für den Urnengang zur Nationalversammlung durch das Verhältniswahlrecht ersetzt, um Le Pen wie einen wilden Hund auf die Bürgerlichen loszulassen. In der zweiten Cohabitationsphase gelang es dem bürgerlichen Premier Balladur, das Mehrheitswahlrecht wiedereinzuführen, allerdings wegen des Widerstands Mitterrands nur mit der Besonderheit, daß nicht die zwei Bestplazierten in die Stichwahl kommen, sondern alle, die mehr als 12,5 Prozent der Stimmen erringen. Das bedeutet, daß in einem Wahlkreis, in dem ein Kandidat des Front National in die Stichwahl kommt, das Potential rechts von der Mitte gespalten wird - zugunsten des einheitlichen Linkskandidaten. Auf diese Weise konnte vor fünf Jahren auch die Linke die Parlamentswahlen gewinnen. Le Pen hatte das bürgerliche Lager geschwächt. Dasselbe kann auch jetzt passieren. In mehr als 300 Wahlkreisen ist der Front National stärker als 12,5 Prozent. Le Pen wird allenfalls eine Handvoll Abgeordnete ins Parlament bringen können, aber er kann die Bürgerlichen entscheidend schwächen.

Der dritte Wahlgang, die Parlamentswahlen, ist für Chirac trotz des triumphalen Erfolgs also noch lange nicht entschieden. Alles kommt darauf an, wie geschlossen Gaullisten und Bürgerliche auftreten und welche Maßnahmen in den nächsten Wochen ergriffen werden, um Le Pen weiter zu entzaubern. Die Stimmen der Barone aus dem bürgerlichen Lager geben Anlass zur Zuversicht, daß der neue Pakt der Republik, den Chirac beschwört, in de Gaullesche Zeiten zurückführt, als Frankreich mehrheitlich hinter der politischen Führung stand und in Europa deshalb auch einflußreicher war. Aber fünf Wochen können in der Politik eine ziemlich lange Zeit sei
 
     
     
 
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