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Gedanken für Intellektuelle

 
     
 
Wir leben in einer Zeit der falschen Gefühle. Sogar Politiker, einst eine Kaste volksferner Technokraten mit schmallippigem Bleichgesicht überm Stehkragen, wollen heutzutage möglichst "nahe bei den Menschen sein" (Johannes Rau), als ob wir um diesen klebrigen Übergriff gebeten hätten. Am schlimmsten sind die Medien, und wir reden hier nicht von süßlichen TV-Schnulzen. Seitdem es zum guten Ton gehört, "Betroffenheit
" und "Engagement" zu transpirieren, servieren uns selbst Politkommentatoren immer häufiger Falschen Hasen statt harter Kritik. Ehrliche Meinungen rutschen, wenn sie überhaupt noch durchscheinen, unauffindbar tief zwischen die Zeilen. Wie freuen wir uns da, wenn uns die Medienmacher für einen Moment wenigstens mal Einblick geben in das, was sie wirklich fühlen.

Diese Geschenk hat uns jetzt Lea Rosh gemacht, die von den Medien bis vor kurzem noch wie eine Unantastbare umschwirrt wurde. Sie hatte sich den wundesten Punkt der Deutschen aufs Banner gemalt, weshalb sich niemand mehr an sie herantraute. Selbst 2.711 Betonstelen hatten ihr da nichts mehr anhaben können. Wie über ihr Mahnmal wirklich gedacht wurde, war am Schluß kaum noch herauszufinden, da jeder Kommentator von der Furcht getrieben zu sein schien, auf Leas schwarzer Liste zu landen als einer, "der sich gegen ein würdiges Gedenken an die ermordeten Juden gesperrt hat". Also wurde die verbliebene Kritik von Monat zu Monat verquaster, in kleine Details zerschreddert, damit keiner nachweisen konnte, daß man das Mahnmal insgesamt für einen Irrtum hält.

Dann plötzlich lies die "allseits für ihr mutiges Engagement geachtete" Frau Rosh den Backenzahn fallen. Die an jede Geschmacklosigkeit längst gewöhnte Journaille wäre gewiß bereit gewesen, selbst diesen widerlichen Knochenkult als "Geste von hoher symbolischer Tragweite" zu feiern. Doch nun ging (für Unkundige ganz überraschend) die jüdische Gemeinde gegen den durchgeknallten Vorschlag, den Zahn eines KZ-Opfers in einer der Stelen zu versenken, auf die Barrikaden. Sofort kam Bewegung in die Ränge: Die Gelegenheit war da, der Rosh all die Jahre heimzuzahlen, in denen man meinte, immer nicken zu müssen, um nicht mit einem tödlichen Ruf behängt zu werden. Nun endlich durften sie für ein paar Tage eindreschen auf die Mahnmals-Initiatorin - und taten dies mit einer Wonne, die viel davon durchblicken ließ, was sich im Herzen so manches angeblichen Lea-Rosh-Bewunderers angestaut hatte. Allerdings bleibt man selbstredend auch in solchen Situationen Profi und duckt sich vorsichtshalber hinter die vernichtenden Zitate prominenter Juden. Denn ein (eigenes) Wort zuviel, und man hat was am Stecken, das einem später noch mal sehr heikel werden könnte. Das ändert aber nichts: Auch die Zitatensammlungen zur Backenzahngeschichte sagen genug aus darüber, wie jene wirklich über das "mutige Engagement" der Frau Rosh denken, die sie zusammengestellt haben.

Besonders professionell ging die Politik mit dem Backenzahnstreit um. Es soll ja das Mahnmal aller Deutschen sein, weshalb zu erwarten gewesen wäre, daß sich ihre demokratisch gewählten Repräsentanten zur Stellungnahme veranlaßt gesehen hätten. Haben sie aber lieber nicht. Einerseits wollen sich die Volksvertreter ja nicht unnötig in Gefahr begeben - und diese unappetitliche Geschichte verhieß nichts als Ärger. Andererseits hatten sie gerade Wichtigeres zu tun.

Und zwar etwas "Historisches", die Europäische Verfassung nämlich. Historisch war insbesondere die Atmosphäre im Reichstag an jenem Donnerstag, den 12. Mai 2005. Soviel Eintracht bei wichtigen Weichenstellungen kannten deutsche Parlamente seit 1989 nicht mehr. Von einer Handvoll Quertreibern abgesehen, waren alle einer Meinung. Populisten werden jetzt giften, die Debatte sei so aufregend gewesen wie in Honeckers Volkskammer. Das ist ungerecht. Vielmehr hatten sich unsere Parlamentarier längst mit der Sache vertraut gemacht, da mußte eben nicht mehr lange erklärt und diskutiert werden. Haben Sie mal die niederschmetternde Erfahrung gemacht, mit einem Berufspolitiker über die EU zu reden? Sobald es brenzlig wird, schleudert der Ihnen mit sonorem Pathos vor den Kopf: "Zu Europa gibt es keine Alternative!" oder droht gar mit "Europa oder Krieg!" So legt er Zeugnis ab von seiner weltgeschichtlichen Weitsicht.

Dem Volk hatte man beruhigend beigebracht, daß die EU-Verfassung erstens - was sonst - "ohne Alternative" sei und zweitens viel zu kompliziert, um vom gemeinen Volk überblickt zu werden. Das ARD-Magazin "Panorama" legte sich fieserweise während der "historischen Abstimmung" auf die Lauer und fragte die Politprominenz nach einigen grundlegenden Regeln jener Verfassung. So wollten die Fernsehmacher von Wolfgang Gerhardt (FDP), Ortwin Runde (SPD), Friedbert Pflüger (CDU), Petra Pau (PDS) und etlichen weniger bekannten Parlamentariern wissen, ob ein Bürgerbegehren nach der EU-Verfassung möglich sei. Die richtige Antwort hätte Ja gelautet. Mit sicherem Instinkt für das, was ein deutscher Politiker dem Volk gestattet und was nicht, antworteten allesamt jedoch zielsicher mit "Nein". Auch vom in der Tat etwas unübersichtlichen System der "Doppelten Mehrheit" auf EU-Ebene hatten die Befragten keinen blassen Schimmer. Und wieviel Sterne die EU-Flagge hat, wußte weder Parlamentspräsident Wolfgang Thierse noch Wirtschaftsminister Clement (beide SPD) noch Gerhardt. Bei der Flaggenbefragung kam zudem ans Licht, daß unsere politische Elite nur eine sehr ungefähre Vorstellung davon hat, wieviele Länder eigentlich Mitglied sind in der EU. Soviel Mut nötigt Bewunderung ab: Der ganze Bundestag entmachtet sich per "historischer Entscheidung" weitgehend selbst, ohne auch nur eine laue Ahnung davon zu haben, wie es weitergeht. Diesen Wagemut bringen nur echte Helden auf. Der legendäre Joachim Fernau wußte schon: "Die Helden der Geschichte sind nichts als glückliche Idioten und die Idioten der Geschichte nichts als unglückliche Helden." Die von "Panorama" interviewten Idioten waren immerhin heldenhaft genug, ihre gänzliche Ahnungslosigkeit, die sich vor dem inbrünstigen Pathos der zuvor begeistert beklatschten Reden besonders prächtig abhebt, aller Welt zum Besten zu geben.

Eine Frau mit Verbindungen
 
     
     
 
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