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Gemeinsames Schicksal

 
     
 
Das Bundestreffen der Ostdeutschland, wie das Deutschlandtreffen früher genannt wurde, an das ich besonders gern zurückdenke, fand vor gut einem Viertel Jahrhundert in Köln statt. Schon früh machte ich mich am ersten Tag der Veranstaltung auf den Weg dorthin. Ich fuhr mit dem Auto. Und kurz vor Köln legte ich eine Pause ein. Ich suchte eine Autobahnraststätte auf, um eine Tasse Kaffee
zu trinken. Dort bemerkte ich schnell, daß an vielen Tischen Menschen saßen, die augenscheinlich alle Ostdeutschland waren und wohl alle dasselbe Ziel hatten wie ich. Das verriet der auffällig viel getragene Bernsteinschmuck. Und es war von einigen Nebentischen her auch aus der Art des Redens ganz eindeutig darauf zu schließen. Ich war also jetzt schon weitgehend unter meinen Landsleuten.

Als ich die Raststätte verlassen wollte, lächelte man mir von einem Tisch her freundlich zu, woraufhin ich, als ich bei den Leuten vorbeikam, stehen blieb und sie fragte, ob sie auch nach Köln wollten.

"Ja, zum Bundestreffen der Ostdeutschland!" bekam ich von der ältesten der Frauen aus der kleinen Tischrunde zur Antwort. Und gleich darauf fragte eine andere Frau mich, ob ich auch hin wolle. Ich nickte bejahend und griff nach dem dicken Bernsteinanhänger meiner Pulloverkette, den ich den Leuten wie eine Identitätsmarke entgegenhielt.

"Wo waren Sie zu Hause?" erkundigte sich daraufhin einer der Männer dieser Runde.

"An der Memel!" antwortete ich leicht wehmütig, ohne eine Örtlichkeit zu nennen.

"Wir sind aus dem Kreis Pillkallen, da wohnten wir ja gar nicht so weit voneinander entfernt."

Man sprach noch dies und das. Dann wünschte ich einen frohen Tag und wandte mich zum Gehen. "Vielleicht sehen wir uns nachher noch!" rief mir eine der Frauen noch fröhlich hinterher, nachdem ich mich schon einige Schritte entfernt hatte. Ich schaute zurück. "Das ist bei unserem gemeinsamen Ziel schon möglich", antwortete ich. Wir winkten einander zu.

Diese kleine Begebenheit steigerte meine Erwartungsfreude auf das was ausstand beträchtlich. Stärker als vorher drückte ich jetzt auf das Gaspedal.

Als ich Köln erreicht hatte, sah ich an einer großen Straßenkreuzung einen beachtlichen Richtungsweiser mit der Aufschrift: OSTPREUSSENTREFFEN. Doch ich lenkte den Wagen zunächst in die entgegengesetzte Richtung. Ich wollte erst in die Pension, in der ich das Zimmer für die Übernachtung gebucht hatte, um meinen Koffer abzustellen und mich frisch zu machen.

Als ich dort ankam, stand die Tür zum Flur offen. Ich trat ein, ohne mich nach einer Türklingel umgesehen zu haben. Irgendwoher hörte ich Gesang. Eine Frauenstimme. Es war das Lied: "Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh ...", das gesungen wurde. Ein Choral aus dem alten ostdeutschen Gesangbuch. Ich kannte das Lied gut; denn es war einst in der Heimat bei den Großeltern zu den Hausandachten oft gesungen worden. Seit damals hatte ich es aber nirgends mehr gehört. - Auch in den Kirchen nicht. Wie ein Gruß aus den frühen Jahren meines Lebens kam mir das Lied deshalb vor. Eine Weile verharrte ich, ohne mich bemerkbar zu machen. Bald aber endete der Gesang, und es trat eine Frau meines Alters in den Flur. Die Pensionswirtin.

Als wir uns miteinander bekannt machten, klärte sich des Rätsels Lösung: auch die Inhaberin der Pension war eine Ostpreußin. Obwohl die Frühstückszeit bereits vorüber zu sein schien, lud die Frau mich sofort zum Frühstücken ein, bereit, mit mir ein wenig zu plaudern. Das lehnte ich jedoch dankend ab, denn ich wollte möglichst schnell zu meinem eigentlichen Ziel. Gleich nachdem ich die Türschlüssel bekommen, das Gepäck abgestellt und mich ein wenig erfrischt hatte, setzte ich mich wieder ins Auto und startete erneut. Köln- Deutz galt jetzt als Richtung und Ziel.

Auf dem Messegelände angekommen, sah ich vor dem Haupteingang riesige Fahnen mit dem Symbol meiner Heimat, der Elchschaufel, wehen. Das beein-druckte mich sehr. Und als ich den Wagen abgestellt und jenem Eingang zustrebte, schlug mein Herz hörbar laut.

Ein breiter, unentwegter Menschenstrom nahm mich auf, der dichter und dichter wurde. Dann verteilten sich die Angekommenen in den Hallen. Dort waren überall Umarmungen bei laut hervorgebrachter Wiedersehensfreude zu beobachten. Gerührte Mienen, Herzlichkeit, ostdeutsche Mundart, ostdeutscher Humor. Und Bernstein! Von fast jeder Besucherin als Schmuck in irgendeiner Art getragen oder als Knopf an Kleid und Bluse genäht. Es war eine allumfassende Verbundenheit da, sie war sichtbar und spürbar. Man lächelte sich zu, man sprach sich an; das hatte in dieser Umgebung etwas Selbstverständliches.

Ich fühlte mich auf dem Gang durch die Hallen von einem einmalig zu nennenden Wohlgefühl getragen. Ich war auf der Suche nach den Menschen, aus deren Reihen ich kam, mit denen ich und die Meinen einst gemeinsam auf die Flucht gegangen waren, damals, im Oktober 1944. Aber Schicksalsverbundenheit fühlte ich auch mit all den andern, die die Hallen füllten.

Nach längerem Suchen gelangte ich zu der Halle, wo weit oben ein Schild mit dem Namen meines Heimatkreises hing. Und gleich darauf entdeckte ich auf einem der langen Tische auch das Schildchen mit dem Namen des Heimatortes, von dem ich kam.

Der Tischbereich war von Menschen eingegrenzt, die dicht bei dicht saßen. Darüber war ich erfreut. Es mußten Menschen sein, von denen der größte Teil wohl um meine Existenz wußte. Bedächtig näherte ich mich ihnen. Einige lächelten mir zu. Ich tat es ebenfalls. Gespannt sah man sich an. Dann stellte ich mich mit meinem Geburtsnamen vor. Da zeigte sich schlagartig allgemeine Freunde über mein Erscheinen. Ich war eine von ihnen; das hatte Gewicht! Es war sofort Vertrautheit da. Und kaum hatte ich Platz genommen, wurde von den hier Vereinten auch schon herausgestellt, welche Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten die einzelnen mit meinen Eltern und Großeltern gehabt hatten. Diese Schilderungen brachten mir manches nahe, was ich selbst aufgrund meines damaligen Alters noch nicht gewußt, wahrgenommen oder gewertet hatte.

Auf mich wirkte all das wie eine Ergänzung zu meinem eigenen Sein. Ich fühlte mich bald wie eingesponnen in die Heimatlichkeit, die dieser Personenkreis entfaltete. Man war hier unter ungefähr zweihunderttausend Menschen und in dieser Gruppe doch ganz unter sich. In dieser Geschlossenheit hat sich für mich so stark verspürte Heimatlichkeit nie und nirgends mehr wiederholt. Deshalb blieb jenes Bundestreffen für mich das bedeutendste und schönst
 
     
     
 
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