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Im Mahlstrom blutiger Gezeiten

 
     
 
Leider schwindet die Zahl der Angehörigen der Erlebnisgeneration - jener, die den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Kataklysmen handelnd und leidend durchgemacht haben - von Jahr zu Jahr. Um so wichtiger sind daher die Memoiren, die der österreichische Arzt Otto Scrinzi jetzt veröffentlicht hat. Scrinzi ist nicht nur ein Großdeutscher (auch so etwas gibt es noch in Österreich), sondern eine eminen
t politische Begabung: ein Mann, der die Entwicklungen und Katastrophen Deutschlands im 20. Jahrhundert scharfsichtig analysiert und sich nicht scheut, gelegentlich auch heilige Kühe seiner eigenen Richtung zu schlachten.

Scrinzi stammt aus der bäuerlichen, zugleich aber "nationalen" Welt Südtirols, von der einst ein anderer prominenter Österreicher sagte, es sei "das einzige Stück deutscher Erde, über dem die Sonne des Südens leuchtet". Seine Herkunft ist für den ostdeutschen Leser von besonderem Interesse, weil Scrinzi bereits als junger Mensch einen gefühlsmäßigen Zugang zu den ehemals von Deutschen bewohnten Ostgebieten in Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei sowie ihrer Seelenwelt gefunden hat. Kurz vor Kriegsausbruch im Sommer 1939 lernt der Verfasser als Student diese ostdeutsche Welt kennen. Da erhält Scrinzi ein Stipendium für das Herder-Institut in Riga - und wird so, ohne es zu ahnen, zu einem der letzten Augenzeugen, die das Baltikum vor der sowjetischen Okkupation erlebten. Es erschien ihm wie eine heile Welt, während Österreich im Chaos zu versinken schien: Wien habe damals einen "niederdrückenden Eindruck" gemacht. Der Westbahnhof, von wo aus seine Reise ins ferne Riga startete, sei von Arbeitslosen belagert gewesen: "Bettler, wohin man sah." Scrinzi und seine Kommilitonen hatten hingegen in Riga den Eindruck, in einem Stück Vorkriegseuropa gelandet zu sein. Er lernte einige der (damals zwar eingeschränkten, aber noch vorhandenen) deutsch-baltischen Adels- und Bürgerfamilien kennen. Ist es Scrinzi schon gelungen, der kleinen deutsch-baltischen und lettischen Welt ein Denkmal zu setzen - man kann den Autor nur beglückwünschen, daß es ihm in wenigen Worten gelungen ist, die wesentlichen Charakteristika dieser Welt zu skizzieren, so wird das folgende Kapitel, "Königsberg - die Wiege Preußens", zu einem Kabinettstück, in dem der Autor zu großer, menschlich berührender Form findet. Über Ostdeutschland zu schreiben falle ihm schwer, bekennt Scrinzi. Wörtlich lesen wir: "Wer den Liebreiz der Nehrungen und Haffe nicht erlebt, das Rauschen der Wälder nicht durchwandert, die weltvergessenen masurischen Seen nicht umrundet, an der Nogat in der Bannmeile der Marienburg nicht eine Nacht schwärmend durchwacht, wird den Verlust dieser Perle im Kranz der deutschen Provinzen kaum ermessen können ..."

Liest man heute bei Scrinzi den Satz, er habe während der späten 30er Jahre das "unbeschwerte Leben der freundlichen Stadt Königsberg" genossen, dann meint man zu träumen - so weltenweit ist das damalige Königsberg vom heutigen "Kaliningrad" entfernt -, schon diesen altbolschewistischen Namen empfindet Scrinzi als eine imperialistische Anmaßung.

Man sollte gerade diese Passagen des Erinnerungsbuches aufmerksam gelesen haben, weil sie die Voraussetzung dafür ist, die kommenden Jahre des Zweiten Weltkrieges zu verstehen. Scrinzi, der bis zuletzt an eine friedliche Lösung glaubte, geriet in den Mahlstrom bewaffneter Auseinandersetzungen. Er wurde Truppenarzt und lernte die Kriegsschauplätze von der Eismeerfront bis Rußland und von Griechenland bis zum Balkan kennen.

Wollte man der Fülle des von ihm ausgebreiteten Materials gerecht werden, müßte dies den Rahmen einer Rezension bei weitem sprengen. Was bei Scrinzi fasziniert, ist die Fülle der Bilder und auch der extremen, höchst "lebensgefährlichen" Situationen, die für die damalige Kriegs- und Frontgeneration selbstverständlich waren, für die Nachgeborenen von heute aber geradezu unvorstellbar sind. Noch gegen Ende des Krieges 1945 fällt der Militärarzt Scrinzi unweit von Belgrad den Partisanen in die Hände, die ihn zuerst erschießen wollen, aber dann davon ablassen, weil sie erfahren, daß er Arzt ist.

Scrinzi erlebt "Größe und Elend eines Rückzugs". Es folgten Internierung bei Amerikanern und Briten. Fast mutet es wie ein Wunder an, daß der Kriegsheimkehrer Scrinzi nicht nur in seiner neuen Wahlheimat Kärnten zu einem anerkannten Psychiater aufsteigt, der in der Behandlung der psychisch Kranken erstaunlich "fortschrittliche" Ideen verwirklicht. Darüber hinaus gelingt ihm der Sprung in die österreichische Innenpolitik: Er wird zum Nationalratsabgeordneten der Freiheitlichen Partei und sogar zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Über die heute in Deutschland und Österreich tonangebenden "Gutmenschen" schreibt er, wenn man etwas zu ihrer Entschuldigung sagen könne, dann seien es ihre "historische Unwissenheit" und die "Halbwahrheiten", in und von denen sie lebten.

Scrinzi gehört zu jenen politischen Gestalten, auf welche ein Wort zutrifft, mit dem einst Charles de Gaulle beschrieben wurde: Man wisse nicht genau, ob er ein Mann von gestern oder von übermorgen sei. Sein Buch aber stellt eine schier unerschöpfliche Quelle dafür dar, wie es "eigentlich" gewesen ist. Jedenfalls nicht so einfach, wie sich manche das vorstellen. C. G. Ströhm

Otto Scrinzi: "Politiker und Arzt in bewegten Zeiten", Leopold Stocker Verlag, Graz 2004, 384 Seiten, 19,90 Euro

 

In der Redaktion eingetroffen

Erinnerungen, bunt gemischt, liefert Emil Karl Stöhr. Autobiographisch orientiert, zeigt der gebürtige Nordböhme das Heranwachsen eines exemplarisch konstruierten Jungen bis zur Heimatvertreibung. In ungewohnter Interpretation der historischen Hintergründe des Zweiten Weltkrieges offenbart sich das Leben des Protagonisten als Parallele zum Dreißigjährigen Krieg.

Emil Karl Stöhr: "Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit", R. G. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004, broschiert, 435 Seiten, 24 Euro

 
     
     
 
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