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In Deutschland vergessen - in Sibirien geehrt

 
     
 
Nur we die Herzen bewegt, bewegt die Welt", sagt Ernst Wiechert in seinem Roman "Di Jeromikinder". Nun habe ich zwar Herzen bewegt, aber nicht die Welt, sondern ein Stadt. In Sibirien. Genauer gesagt, in Schadrinsk, der Stadt mit heute 88 00 Einwohnern, am Fluß Isset liegend, wo ich einst mit vielen anderen verschleppten Fraue Zwangsarbeit geleistet habe.

Vom derzeitigen Generaldirektor der Fabrik "SCHAAZ" (früher SIS), für die ich dreieinhalb Jahre gearbeitet hatte, war ich mit meinem Mann eingeladen worden. E hatte mein ins Russische übersetzte Buch über meine Verschleppung gelesen, das – wörtlich – "einen unvergeßliche
n Eindruck in vielen Seelen hinterlassen un einen riesengroßen Schritt für die weitere Entwicklung in den Beziehungen zwische unseren Völkern machen würde …", auch wollte er uns kennenlernen, un außerdem sollte ich zu den Menschen der Stadt sprechen.

Diesem Wunsch konnte ich nicht widerstehen, und so flogen wir, trot gesundheitlicher Probleme, von Frankfurt direkt nach Jekaterinburg, wo uns Nadj (die Übersetzerin des Buches) mit Sohn Gleb und Walya, durch die ich 1988 den Kontak nach Schadrinsk geknüpft hatte, mit Enkelin Stassia in Empfang nahmen. Mit dem Wagen, vo Fabrikdirektor auch für die sieben Tage unseres Aufenthaltes samt Chauffeur zu Verfügung gestellt, fuhren wir dem 240 km entfernten Schadrinsk entgegen. Unzählig Birkenhaine mit ihren leuchtendweißen Stämmen säumten unseren Weg und verschlafen Dörfer mit den altbekannten Blockhäusern, die phantasievoll geschnitzte farbenfroh Fensterläden zierten, sonst die schier endlose Weite Sibiriens.

Die Dunkelheit hatte schon längst eingesetzt, als wir die Stadt erreichten. Wir wurde zum "Profilaktorium" gebracht, einem Haus, das den Werksarbeitern unte ärztlicher Betreuung vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen bietet. Dort sollten wir au Wunsch des Werkdirektors wohnen. Wir bezogen ein wohnlich eingerichtetes Zimmer mit Dusch und WC und einem mit Mineralwasser, Säften und Joghurt gefüllten Kühlschrank, dazu ei Heißwasserkocher zur Teebereitung samt Geschirr; wir sollten Vollpension haben. S erhielten wir, nach russischer Sitte, bereits zum Frühstück Reis- oder Hirsekaschka mi einem Steak oder Bratklops, Weißbrot, Butter, Marmelade, Käse oder Wurst. Mittags gab e immer drei Gänge, und alle Mahlzeiten wurden uns aufs Zimmer gebracht; alles appetitlic angerichtet, schmackhaft und so reichlich, daß wir darum baten, uns nur die Hälfte de Portionen zu bringen. Übrigens war das Haus während der Schulferien mit Kindern au ärmeren Familien belegt, die sich dort erholen sollten – es wurde also für un nicht extra gekocht.

Als Nadja, die uns während der Zeit unseres Aufenthaltes begleiten würde, uns da für uns zusammengestellte Programm zu lesen gab, schoß mir durch den Kopf: Hoffentlic stehe ich das alles durch! Detailliert mit Tag und Uhrzeit hieß es: Rundgang durch die Stadt – Empfang beim Generaldirektor der Fabrik – Konferenz in de Werkszeitungs- und Rundfunkredaktion mit Treffen von Zeitzeugen – Rundgang durch da Werksgelände – Besuch im Museum des Werkes – Empfang beim Bürgermeister – Konferenz mit der Stadtöffentlichkeit im Lesesaal der Bibliothek – Reise zu Kolchose "Budjonny" – Besuch der Gedenkstätte/Friedhof – Besuch in Altenheim und des Kinder-Erholungsheimes – am Sonntag Besuch der drei Stadtkirche – Rundgang durch das Stadtmuseum – Ehrengäste beim Stadionkonzert – Konferenz in der Zeitungs-Redaktion "Isset" – Fahrt zu einem Kloste mit Treffen der Äbtissin – Abschieds- treffen mit Generaldirektor de "SCHAAZ".

Bei unserem Rundgang durch die Innenstadt stellten wir fest, daß sich das Stadtbil seit unserem letzten Besuch 1991 wesentlich verändert hatte. Zwar waren außer eine Bankgebäude keine Neubauten entstanden, jedoch belebten mehr Autos die Straßen und e gab viele Geschäfte. Eigentlich konnten wir sie nur an den Überschriften wi "Magazin", "Produkte", "Foto" usw. erkennen, Schaufenste gab es höchstens ganz winzige. Auf dem Basar aber, 1991 wie leergefegt, gab es jetzt ei geschäftiges Treiben, und er bot mit seinen vielen Ständen nahezu alles: Kleidung Reinigungsmittel und Kosmetika – größtenteils westliche Markenartikel, Gemüse Obst bis hin zu exotischen Früchten. In der großen Halle präsentierte sich ei ansehnliches Fleisch- und Wurstangebot, Molkereiprodukte, mehrere Brotsorten sowie Kuche und lecker aussehende Törtchen.

Ja, zu kaufen gab es alles, nur – den Leuten fehlte dafür das nötige Geld Wie wir erfuhren, verdienen Angestellte etwa 100 bis 1500 Rubel im Monat, ein Kilo Fleisc aber kostet 30 bis 40 Rubel, ein halbes Pfund Butter 8 Rubel, eine etwa 60 qm groß Wohnung um 170 Rubel. Zudem sollen ab 1. August die Mieten, Strom und Gas erhöht werden So kann sich jeder Stadtbewohner glücklich schätzen, wenn er einen Garten um sein Hau oder außerhalb der Stadt gelegen besitzt.

Am ersten Nachmittag empfing uns Generaldirektor Kolotuschkin, unser eigentliche Gastgeber. Mit Umarmung und Kuß!! (Hätte mir solches jemand vor 50 Jahren prophezei …!) Zunächst drehte sich unser Gespräch, das Nadja übersetzte, um den Inhal meines Buches "Verschleppt nach Sibirien", dessen Schilderungen ihn seh beeindruckt hatten. Ich spürte Anteilnahme und Wärme in seinen Worten. Und was ich in Folgenden hörte, läßt mich vermuten, daß hier ein Mensch einem Betrieb vorsteht, de ein offenes Ohr und Herz für seine Mitarbeiter hat, unter dessen Leitung jeder gern sei Tagwerk verrichtet.

Danach wurden wir in der Werkszeitungsredaktion empfangen, mit Tee und Gebäck. Daz waren auch ehemalige Zeitzeugen und Frauen geladen, mit denen wir früher Kontakt hatten So erzählte eine Frau, daß sie damals einen Wintermantel von einer Frau erworben hatte der immer so angenehm duftete und den sie noch jahrelang getragen hätte. Und das mu mein Mantel gewesen sein, denn nicht nur die Beschreibung paßte, er duftete auch. Nac Rosenwasser. Mit diesem hatte ich mich, da es 1944 kein Parfüm zu kaufen gab, reichlic "besprenkelt". Meine Cousine, die in Königsberg in einem Apotheken-Großhande dienstverpflichtet war, hatte es heimlich besorgt. Anwesend waren auch Tochter und Enkeli unseres, leider schon verstorbenen, Transport-Natschelniks. Sie überreichten mir ein kleine Kissenplatte mit einem gestickten Bernhardinerbildnis. "Opa hat es gestickt als er Rentner war, das sollen Sie jetzt haben", sagte die Enkelin. Als Bild gerahm hängt es jetzt neben meinem Bett.

Bei allen unseren Begegnungen offenbarte sich uns die oft zitierte "russisch Seele", wir erlebten eine schier überwältigende Herzlichkeit. Die mein Buch scho gelesen hatten, zeigten Mitleid, Bewunderung und Dankbarkeit fürs Aufschreiben. I wenigen Worten drückte es der Bürgermeister in seiner Widmung eines Buches über die "Stadt am Isset" aus, das er uns schenkte: "Für Hildegard Rauschenbach zu Zeichen der tiefen Anerkennung und Dankbarkeit für die wahrheitsgetreue Wiedergabe vo Geschehnissen der Kriegs- und Nachkriegsjahre. An sie, die sie die Leiden, Schwierigkeite und Entbehrungen der Zwangsarbeit erfahren hat, für ihre Liebe und ihr Verständnis de russischen Menschen und unserer Landsleute im Nach-Uralgebiet. Hochachtungsvol …"

Was nicht im Programm enthalten gewesen war: Das russische Fernsehen war, wie bereit im "SCHAAZ"-Werk, im Rathaus dabei, und ich sollte noch extra zu de Schadrinskern sprechen. Da mich danach im Lesesaal der Bibliothek Publikum erwarte würde, und ich mich darauf vorbereitet hatte, machte es mir keine Mühe, die richtige Worte zu finden. Ja, ich war erfreut, noch mehreren Menschen sagen zu können, daß wi Frauen aus dem Lager ihre offene Hand und ihr Mitleid nicht vergessen haben, daß jede Krieg nur Leid und Verderben bringt, daß das Volk immer der Verlierer ist, daß wir, da Volk, uns verstehen müssen und uns nicht von machtbesessenen Herrschern in einen Krie hetzen lassen dürfen.

Im Stadt-Museum stellten wir erfreut fest, daß uns Verschleppten eine ganze Eck gewidmet ist mit Kennkarten und anderen Dokumenten, die uns bei der Gefangennahm abgenommen wurden, einem Holzkoffer, und auch mein Buch, in Deutsch und Russisch, is dabei. Leider gibt es kein einziges Foto von unseren beiden Lagern, auch nicht in de Archiven. Das sagte uns ein Pädagoge der Finanzschule, der sich nach unserem erste Besuch intensiv um Informationen bemüht hat. So hat er u. a. durch Befragen vo Zeitzeugen die Stelle herausgefunden, an der ein Massengrab unserer Toten ist, die im Ma 1945 nach einer Typhus-Epidemie verstorben waren. Ihm ist es zu verdanken, daß dort jetz eine Gedenkstätte mit einem etwa einen Meter hohen Granitstein ist; die Inschrift in Deutsch und Russisch besagt, daß hier deutsche Frauen und Mädchen ruhen, die von 193 bis 1948 interniert waren. Doch diese hochherzige Tat, fü die er sich extra drei Monate Urlaub nahm, brachte ihm beinahe eine Gefängnisstrafe ei – er wurde beschuldigt, den Stein gestohlen zu haben! Während der gute Mann der mit uns hierher gefahren war, erzählte, kamen zwei Frauen, die anscheinend bei Erdbeersammeln waren, und blieben am Stein stehen. Sie sahen meine am Stein abgelegte Seidenrosen und sagten, daß sie hier fast jeden Tag vorbeikommen und auch des öftere Blumen niederlegen, und sie würden aufpassen, daß die Blumen nicht gestohlen werden.

Der nächste Tag führte uns noch einmal zu der Grabstätte und sollte zu eine besonders bewegenden Moment werden.

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