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Kampf der Einsamkeit

 
     
 
Eigentlich begann es im Kino. Sie zeigten einen Film mit viel Mord und Totschlag, und am Ende wurde der Verbrecher von einer Polizeibeamtin in Zivil zur Strecke gebracht. Sie schnippte nur mit zwei Fingern ihrer linken Hand, als ginge es darum, eine Mücke zu verscheuchen, und der Bursche lag aktionsunfähig zu ihren Füßen.

Am Tage nach diesem Kinobesuch kaufte ich mir ein Lehrbuch, um nun die Kunst der Selbstverteidigung zu erlernen. Zu Hause begann ich dann augenblicklich mit dem Unterricht.

Der Lehrstoff war in drei Kapiteln untergebracht: 1. Selbstverteidigung durch scheinbares Nichtstun, 2. Selbstverteidigung durch offene Verteidigung, 3. Selbstverteidigung durch offenen Angriff. Eine ganze Menge Bilder veranschaulichte, wie man es zu tun habe. Sehr hübsch zum Beispiel, um nur einen Fall herauszugreifen, die Illustration über das fast unauffällig
e Auskugeln eines Armes.

Nach einer Woche Selbstunterricht war ich überzeugt, mit jedem Angreifer fertig zu werden. Doch eines Nachts erwachte ich und wußte, daß mir etwas fehlte - nämlich eine Bestätigung. Die Bestätigung, daß mein Selbstunterricht kein Humbug gewesen war. Wie zum Beispiel sollte ich wissen, ob der sanfte Mittelfingerknöchelstoß III unter das Ohr des Gegners, Seite 304, Abb. 2, wirklich zu einem Niederschlag und zur völligen Kampfunfähigkeit des Angreifers führen würde? Ich wußte es nicht! Und das war es! Kein Mensch kann die Abwehrmaßnahmen aus Lehrbüchern der Selbstverteidigung an sich selber ausprobieren. Mein Entschluß war gefaßt!

In der Frühe machte ich noch ein paar Lockerungsübungen, Seite 6, Abb. 1-24, und verließ die Wohnung. Vor der Haustür beschäftigte sich gerade ein junger Bursche damit, leere Milchflaschen gegen volle umzutauschen. "Was machen Sie denn da?" fragte ich.

"Ich bringe die Milch", sagte der Bursche. "Vielleicht stehlen Sie sie aber auch, oder?" Wenn er mich jetzt angreift, überlegte ich, erledige ich ihn mit der Daumenballenabwehr, Seite 401, Abb. 3.

Aber der Bursche lachte nur. "Sie sind mir vielleicht ein Spaßvogel!" sagte er. Damit stieg er auf sein Lieferrad und fuhr davon.

Im Stadtpark piekte ein Mann mit einem Stock, an dem eine Metallspitze befestigt war, Papier auf. "Lassen Sie gefälligst das Papier liegen!" fuhr ich ihn an.

"Jaja", sagte der Mann. "Viel zu kalt für die Jahreszeit." - "Sie sollen das Papier liegen lassen!" - "Jaja", sagte der Mann und piekte weiter, "aber der Hundertjährige Kalender hat es vorausgesagt. Auf den ist Verlaß. Nur 1911 hat er mit all seinen Voraussagungen danebengehauen." - "Wer hat danebengehauen?" horchte ich auf. "Der Hundertjährige Kalender", sagte der Mann.

Nun ja, mit Narren soll man sich nicht abgeben. Die bevorzugen eine andere Art der Selbstverteidigung.

Mittags sah ich, wie ein Möbelwagen vor einem Neubau hielt, wie drei kräftige Möbelpacker die rückwärtige Wagentür öffneten und sich geradezu spielerisch mit einem Klavier beschäftigten. Ich ging auf die drei zu und sagte laut und deutlich: "Na, ihr Schlappschwänze!"

"Wohl betrunken, was?" fragte einer der Männer. "Und wie!" sagte ich. "Ich suche Streit. Ich weiß nicht, wohin mit meiner Kraft!"

"Prima!" sagte der eine der Packer. "Dann pack mal mit an!" Was soll man dazu sagen? Das waren wirklich nette Leute. Als wir den Umzug hinter uns hatten, drückten mir die Männer sogar noch einen Geldschein in die Hand und gaben mir eine Flasche Bier mit auf den Weg. So leicht gewinnt man Freunde. Viel Wert war dieses Lehrbuch offenbar nicht.

Als ich abends - ziemlich enttäuscht - nach Hause kam, begegnete mir auf dem Korridor meine Wirtin. "Nun, wie wär s noch mit einem Täßchen Kaffee?" fragte sie.

An diesem Abend sah ich, daß die Frau blond und hübsch war. Das war mir bisher gar nicht aufgefallen. Der Kaffee war auch recht gut. Kurz nach Mitternacht schnippte sie mit zwei Fingern ihrer linken Hand, als ginge es darum, eine Mücke zu verscheuchen - und ... den Rest verschweige ich einfach. Jedenfalls sieht man, was einem alles passieren kann. Trotz Lehrbuch.

Von wege
 
     
     
 
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