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Keine Angst vor Geistern?

 
     
 
Die Marie war gewiß ein aufgewecktes und resolutes Mädchen, das die Arbeit höher schätzte als irgendein Getue um sich und andere. Wenn die Leute dennoch behaupteten, daß der Marie unwahrscheinliche Absonderlichkeiten und spukhafte Geister nur so nachliefen, so war das gewiß nicht übertrieben. Niemandem aus dem kleinen Städtchen folgten glühende Augen, unsichtbare Schritte, schauerliches Zischen und was es derlei geisterhaften Unfug noch geben mochte so beharrlich wie ihr. Und niemandem taten die Unsichtbaren so viele Ereignisse an, wie eben ihr. Doch das wunderte niemanden.

Schließlich war an der Marie selbst so allerhand Merkwürdiges. Sie konnte sich die reinsten Funken aus dem Haar bürsten. Und sie hörte Stimmen, die niemand sonst wahrzunehmen verstand. Sie hörte die Marienkäfer husten, wenn sie aus dem Winterstaub wieder hervorkrochen. Sie hörte die Schmetterlinge den Blume
n ewige Liebe schwören und die Bäume Nachtlieder singen, wo jeder Mensch vor lauter monotonem Geraschel eingeschlafen wäre.

Und dann ihre Erlebnisse. Schon in der Kinderzeit fing es an. Da konnten ihr die Erwachsenen viel erzählen, daß die nächtlich schlurfenden Schritte nichts weiter als das Rascheln ihrer eigenen aufgeregten Wimpern an der über den Kopf gezogenen Bettdecke, das Klickerspiel der Geister nichts weiter als das Tik-ken der alten Gasuhr sei. Marie wußte es besser. Sie lernte es, mit Geistern zu leben, die doch wohl keiner zu leugnen wagte - nicht wahr? Man mußte sie nur bei guter Laune halten, sie ernst nehmen und selbst dann nicht über sie lachen, wenn sie selber Schabernack trieben.

Ach ja, auf den Schabernack verstanden sich die Unsichtbaren wirklich. Als Marie einmal bei Sturm und Regen im Abstellschuppen über dem Hof etwas Dringendes zu holen hatte, patschten sie ihr einen nassen Lappen ins Gesicht, der zuvor gewiß noch nie über der Tür gehangen hatte. Ein anderes Mal warfen sie ihr abends im schummerigen Keller eine Latte entgegen, die noch am Mittag sorglos am Hofzaun gelehnt hatte. Und auf dem Friedhof konnten sie ihr einen hellen Wasserstrahl statt in die Gießkanne ohne ersichtlichen Grund mitten ins Gesicht spritzen.

Es war nur gut, daß Marie keine Angst hatte, wenn es auch manchmal noch so sehr zum Fürchten wurde. Wie etwa damals, als sie vom Tanzvergnügen ganz allein nach Hause mußte und, um den langweiligen Weg abzukürzen, ein Stück an den baumbestandenen Flußanlagen entlangging. Schon waren die Geister hinter ihr her. Sie schlurften langsam, wenn Marie langsam ging. Sie klopften über Sand und Stein, wenn sie nur so dahinflog. Sie standen sofort mucksmäuschenstill, wenn auch sie lauschend anhielt. Später konnte die Familie leicht lachen, Marie hätte den Ast hinter sich klopfen hören, der sich im Spitzensaum ihres wadenlangen Kleides verhäkelt hatte. Mit solchen irdischen Verwandlungen und Erklärungen narrten die Unirdischen nur zu gern die Menschen. Marie aber konnte man nicht narren.

Auch im Putzgeschäft nicht, wo sie nach ihren Lehrjahren trotz allen Geisterglaubens wegen ihrer Eifrigkeit gleicherweise bei Herrschaft und Kundschaft gern behalten wurde. Schwebte da doch einmal einer dieser großen Krempen-Hüte vor aller Augen vom Arbeitstisch am Fenster quer durch den Raum auf das Regal an der Tür und von hier aus gleich auf den Boden, wo er solange herumtanzte, bis er eine kleine Katze gebar. Die war zwar grau und nicht spukschwarz, aber der Marie konnte niemand weismachen, daß das nicht eine Geisterzauberei gewesen war.

Ja, Marie hatte schon so viele Geisterdinge erlebt. Aber einen leibhaftigen Geist selber - nein, den hatte sie noch nie gesehen. Merkwürdig, daß ihr das gerade jetzt einfiel, während sie rechtschaffen müde in ihr Kämmerchen hinaufschlich, das sie im Haus ihrer Meister bewohnte.

Der Tag war anstrengend gewesen. Nicht der Hüte wegen; die hatte man heute beiseite lassen müssen. Nein, die alte Meistersche hatte das Zeitliche gesegnet, und Marie hatte nicht nur ihr die letzten Dienste treu erwiesen, sondern war auch abwechselnd dem Meister und der Meisterin beruhigend und helfend beigesprungen. Da sprach man immer vom Stille und Leere verbreitenden Sensenmann - aber die Wahrheit war, daß das Haus, so lange sich Marie erinnern konnte, noch nie so voller Unruhe, aufgescheuchter Menschen und lauter Fragen gewesen war.

Aber nun lag die Meistersche, angetan mit dem schönsten Sonntagsstaat, im ausgeräumten und blumengeschmückten Arbeitsraum, friedlich und gut, bis man sie feierlich aus dem Hause tragen würde. Nun hatte für diesen Tag auch das Haus endlich Ruhe bekommen.

Wirklich Ruhe? Marie, eben dabei, sich das Nachthemd überzustreifen, schreckte hoch. Ein Knacken auf den Holzstufen, die zu ihrem Zimmerchen führten. Nanu, wollten die Meisters noch etwas von ihr? Aber so sehr sich Marie auch anstrengte, es waren keine Schritte zu hören. Nur immer dieses Knack ... Knack ... Knack ... Ganz deutlich. Und es kam näher.

Die tote Meistersche, denkt Marie. Und zum ersten Mal in ihrem Leben läuft es ihr heiß und kalt den Rücken hinunter, und die Hände zittern so sehr, daß sie kaum ins Nachthemd kommt. Sie hat doch für die Meistersche alles getan, was nur noch hatte getan werden können, was konnte die nun noch von ihr wollen. Und aufmerksam genug war sie allezeit auch gewesen, ganz bestimmt; nicht einmal im Traum hat die Marie über sie geschimpft, oder doch? Aber das konnte die Meistersche ihr doch nicht noch jetzt übelnehmen, wo die Marie sie so friedlich hingebettet hatte und sie überhaupt längst auf dem Weg zum Paradies sein sollte! Oder war s vielleicht gar nicht die Meistersche, sondern der Sensenmann selber, der die Marie ins Verhör nehmen wollte?

Mit einem Satz war die Marie im Bett und zog die Decke über den Kopf. Aber was nützte das. Da kratzte er doch wahrhaftig schon an der Tür, winselte erst, jaulte dann auf, klopfte energisch gegen das Holz, verlegte sich wieder aufs Wimmern - o je, er wußte der Marie wirklich die ganze Schauerarie der armen Sünder in der Höllenbraterei vorzusingen. Wenn der Marie doch nur ein paar schutzsichere Verse aus dem Gebetbuch einfallen wollten. Aber in ihrem Kopf bibberte es so sehr, daß ihre Lippen nichts weiter als immer nur ein "Ach, du lieber Gott" zu murmeln wußten. Was konnte das schon gegen den teuflischen Spuk helfen. Oder doch?

Nach einem letzten, lauten Bums gegen die Tür wurde es plötzlich still, geradezu grabesstill. Marie streckte vorsichtig ihre Nase wieder aus den Kissen hervor. Hatte sie den Sensenmann überlisten können? Schnell noch einmal aus dem Bett heraus und das Licht ausgemacht! Dann sollte der Sensenschwinger nur noch meinen, daß sie überhaupt da war! Ach, zu spät. Da klopfte er schon ans Fenster. So täuschend ähnlich, als wäre es ein Ästchen des alten Birnbaums. Aber darauf fiel die Marie nicht herein; nicht beim heimlichen Freier, beim Sensenmann nicht und auch nicht bei den Geistern.

Die Geister! Wie sie die hatte vergessen können! Natürlich, nicht der Tod, sondern die Geister waren es, die zu ihr wollten. Hatte sie die nicht immer leibhaftig sehen wollen? Endlich war es soweit. Nun waren sie wohl gekommen, weil es hier oben bei der Marie gemütlicher war als da unten bei der kalten und stummen alten Meistersche.

"Na, dann kommt nur immer herein", kicherte die Marie sichtlich erleichtert und öffnete weit ihre Kammertür. Jaulend sprang ihr der Bello entgegen, den man den ganzen Tag über ganz und gar vergessen hatte ...

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