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Massenprotest verhindert Abschaffung der Schulnoten

 
     
 
Die schrittweise Anpassung der ostmitteleuropäischen Länder an die Verhältnisse in der EU fördert nicht nur Ansehnliches zutage. Auch gesellschaftspolitische Altkleider werden bei den östlichen Nachbarn als moderne westliche Maßanzüge unters Volk gebracht.

Viele Letten, die froh waren, die uniforme Ideologie des Kommunismus losgeworden zu sein, mußten feststellen, daß ihre Führung in der Bildungspolitik plötzlich Linksgestricktes aus Deutschland oder Schweden als neue Masche aufgriff.

Mitte September, kurz nach dem Ende der zweieinhalbmonatigen Sommerferien
, bekamen alle Schüler der 5.-12. Klassen ohne vorherige Ankündigung mitgeteilt, daß ab sofort keine Zensuren mehr vergeben werden dürften. Lediglich die Abschlußprüfungen würden in gewohnter Manier bewertet.

Für die Grundschulklassen 1-4 galt diese "Reform" bereits seit dem vorherigen Schuljahr. Statt der weitgefächerten Notenskala gab es nur noch ein "bestanden" oder "nicht bestanden". Aus dem Bildungsministerium verlautete, daß die Schüler durch Zensuren "Diskriminierungen" erlitten.

Eltern wie Lehrer zeigten sich schon von der Änderung für die ersten Klassen wenig angetan, und letztere umgingen die staatliche Vorgabe, indem sie unter die Tests verschieden fröhliche oder traurige Gesichter malten oder durch andere Ersatzlösungen dem allgemeinen Wunsch – auch vieler Kinder – nach genaueren Leistungsunterscheidungen entsprachen.

Die neue Weisung für die höheren Klassen hatte dann einen regelrechten Sturmlauf der Betroffenen zufolge. Die Schüler planten großangelegte Streiks, an denen sich ihre Lehrer beteiligen wollten. In der Elternschaft befürchtete man eine langfristig verheerende Beeinträchtigung des Leistungswillens und der Leistungskraft der Kinder. Auch gab es die Kritik, daß ohne Noten etwaige Lücken ihrer Sprößlinge und damit zugleich die Notwendigkeit gezielter Hilfen kaum mehr erkennbar seien.

Politiker wurden mit Protestbriefen überschüttet, die Zeitungen quollen über von empörten Leserbriefen, und erste Unterschriftenlisten gingen von Hand zu Hand. Noch ehe der bildungspolitische Volksaufstand seinen Höhepunkt erreicht hatte, war jedoch die Widerstandskraft in der bürgerlichen Regierungskoalition abgebröckelt.

Der Bildungsminister sagte, er halte die Weisung zwar für gut, habe sie aber "nur weitergeleitet". Ministerpräsident Berzins zog seinen Kopf gleich ganz aus der Schlinge, indem er behauptete, von der Änderung nichts gewußt zu haben. So zerplatzte die "Reform" wie eine Seifenblase, und die Lehrer nutzten die Stimmung dazu, auch in den Klassen 1-4 zum bewährten Notensystem zurückzukehren.

Abgesehen von dieser Absage an die bildungspolitischen Weichspüler und der Bejahung von Leistungsdifferenzierungen als Ausdruck menschlicher Verschiedenheit fällt es schwer, sich von den heterogenen Veränderungen in der lettischen Schul- und Universitätslandschaft ein Bild zu machen.

Positive Folgen dürfte der vor allem auf den Sparzwang zurückzuführende Abbau von Vorschuleinrichtungen zeitigen. Immer mehr der in der kommunistischen Ära eingerichteten staatlichen Verwahrungsstätten für Kleinkinder berufstätiger Eltern mußten schließen. Allein zwischen 1989 und 1995 schwand ihre Zahl von 1200 auf 608. Wurden vor 1990 noch 83 Prozent des Nachwuchses in Kindergärten abgeliefert, waren es fünf Jahre später nur mehr 54 Prozent.

Ebenfalls rückläufig ist die Zahl der Lehrer, die in Lettland ebenso wie im gesamten früheren Ostblock miserabel bezahlt werden und lieber in der freien Wirtschaft arbeiten. Das im europäischen Vergleich rekordverdächtige Verhältnis von einem Lehrer für jeweils 4-5 Schüler in den ersten vier Klassen ländlicher Grundschulen sowie einer Quote von etwa 1:17 in den Städten verändert sich zunehmend zu Lasten der Unterrichtsqualität.

Demgegenüber ist – ähnlich wie in westlichen Staaten – eine starke Zunahme der Oberschüler (ab Klasse 10) festzustellen. Im Jahre 1990 lag deren Prozentanteil an den Grundschulabgängern bei 40 Prozent, 1994 bei 52,8 Prozent und 1995 schon bei 55,4 Prozent. Diese bis in die Gegenwart hinein zu beobachtende Aufblähung gilt genauso für den Hochschulbereich.

Die Oberschulbildung entweder in der "vidusskola" ("Mittelschule") oder im stärker spezialisierten "gimnazija" setzt sich aus mindestens zwölf Fächern zusammen, von denen fünf verbindlich sind: Lettische Sprache und Literatur, Geschichte, Mathematik, eine Fremdsprache, Körperkultur und Sport. Im Abitur ist eine Prüfung in Lettischer Sprache und Literatur obligatorisch, ein zweites Pflichtfach wird jährlich zentral als Prüfungsgegenstand festgelegt. Darüber hinaus können die Schüler fürs Abitur drei Fächer frei wählen.

Die Lehrinhalte werden immer weniger zentral vom Rigaer Bildungsministerium festgelegt, sondern zunehmend der Verantwortlichkeit der einzelnen Schulen überlassen. Auch die Zeit landesweit einheitlicher Lehrbücher gehört der Vergangenheit an.

Trotz der unübersehbaren staatlichen Rückzugstendenzen machten die Ausgaben der öffentlichen Hand im Bildungssektor in den lettischen Haushaltsplänen der Jahre 1995-97 beachtliche zwölf Prozent aller Investitionen aus.

Aus konservativer Sicht erfreulich ist an Lettland die Betonung des bildungspolitischen Auftrags zur Wahrung der nationalen Kulturidentität, wie er in der überragenden Rolle des Schulfaches Lettische Sprache und Literatur deutlich wird. Keineswegs selbstverständlich ist auch der maßvolle Einsatz des Faches "Computer und Informatik", das nur eines unter vielen Wahlmöglichkeiten darstellt.

Tänze ums Goldene Kalb, wie sie deutsche Politiker in Sachen Informationstechnologie gerne vollführen und als Allheilmittel anpreisen, kann man in der Baltenrepublik nicht beobachten. Offenbar ist dort (noch) die Erkenntnis vorherrschend, daß es sich hier zwar um eine neue Kulturtechnik handelt (die vierte neben Lesen, Schreiben und Rechnen), weniger allerdings um einen Bildungsinhalt an sich.

Eine sinnvolle Nutzung der Informationstechnik ist erst mit einer guten Allgemeinbildung möglich: Man muß angesichts der Fülle der über Internet abrufbaren Daten wissen, was man sucht, muß die richtigen Fragen stellen und Wertvolles von Infomüll unterscheiden.

Im Baltikum und im ganz Europa muß es auch künftig darum gehen, den nachwachsenden Generationen ein relativ zeitloses Grundlagenwissen zu vermitteln. Denn es ist ein fataler Irrtum vieler Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft zu glauben, die Schule könne im Wettlauf mit dem immer schnelleren Wissenszuwachs unserer Zeit auch nur annähernd mithalten.

Bedeutete schon der durch die 68er-Bewegung forcierte egalitäre Ansatz eine schwere Bürde, an der die Bildungspolitik nicht nur in Deutschland bis heute zu tragen hat, so könnte sich die Internet-Ideologie schon bald als ebenso verhängnisvolle Gefahr erweisen, indem sie die Manipulierbarkeit der Massen noch weiter erhöht.

 
     
     
 
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