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Mir geht s gut

 
     
 
Olivia saß in ihrem Zimmer und überlegte. In einer Woche wurde ihr Vater 40, und da sie jederzeit mit all ihren Sorgen zu ihm kommen konnte, wollte sie ihn diesmal mit etwas Besonderem überraschen.

Dr. Sanders war Allgemeinmediziner und seine Praxis ständig überlaufen, denn er war ein guter Arzt, der mit seinen Patienten fühlte und manchmal sogar litt. In diese Richtung muß ich denken, dachte Olivia, es soll schon etwas sein, das zu Papa paßt.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie hörte wieder die Stimme ihres Vaters: "Glücklich die Menschen, die so leben können, wie sie möchten. Aber dazu gehört viel Selbstbewußtsein und Durchsetzungsvermögen."

Olivia nickte. Selbstbewußtsein hatte sie. Es mußte einfach klappen, was sie sich vorgenommen hatte. Und schon rannte sie los.

Ein Nachbarsjunge und auch ihre beiden Schulfreundinnen waren sofort von ihrem Vorhaben begeistert. Nach und nach gelang es Olivia, auch noch ein paar Erwachsene zum Mitspielen zu bewegen. "Aber Sie müssen überzeugend sein", sagte Olivia, "Papa darf nicht merken, daß alles nur Theater ist."

Für das Spiel hatte sie sich einen Mittwoch ausgesucht, weil sie wußte: an diesem Tag saßen nur wenige Kranke im Wartezimmer ihres Vaters.

Der erste Patient war Ludwig Siebenstein, ein noch sehr rüstiger ehemaliger Rundfunksprecher. Dr. Sanders kam ihm höflich entgegen und fragte: "Na, Herr Siebenstein, macht Ihnen der Magen schon wieder zu schaffen?"

Der Mann strahlte ihn an. "Wieso, lieber Doktor? Mir geht es prima! Keine Magenschmerzen, kein Bauchgrimmen, und der Blutdruck ist auch ganz normal. Das wollte ich Ihnen nur eben mitteilen." Er schüttelte seinem Arzt dankbar die Hände und ging. Später erzählte er Olivia, daß das Gesicht ihres Vaters filmreif gewesen sei.

An diesem Tag erlebte der Arzt noch einige Überraschungen
dieser Art. "Was kann ich heute für Sie tun?" fragte er seine Reinigungsfrau, die resolut in sein Sprechzimmer marschierte. "Überhaupt nichts, Herr Doktor", dröhnte Frau Ahlers, "ich bin okay! Wollte mich nur mal für die Tropfen bedanken. Die haben geholfen." Und schon war sie weg.

Ehe Dr. Sanders den Besuch dieses zweiten fröhlichen Patienten verdaut hatte, kam schon der nächste herein, und danach noch einer und noch einer. Sie versicherten ihm alle, wie gesund sie doch seien und daß sie das ihm, ihrem Arzt, zu verdanken hätten. Die Leute wurden weder von Allergien geplagt noch von einem Tinnitusleiden, auch nicht von Husten oder Schnupfen oder beidem.

Der Nachbarsjunge machte, um sein gutes Befinden zu demonstrieren, sogar einen vollendeten Handstand. "Mir geht s echt klasse!" ächzte er mit rotem Gesicht aus der anderen Perspektive, "megasupergut!" Und dann sprintete er hinaus.

"Das ist mir auch noch nicht passiert", meinte Dr. Sanders schließlich zu seiner Assistentin, "Patienten, die super drauf sind, sich okay fühlen und sogar sportliche Eingaben hinlegen, sind mir noch nie begegnet." Die Arzthelferin nickte nur; sie und die Frau des Doktors waren eingeweiht.

Es war schon fast Mittag, als der Freund des Doktors mit schmerzverzogenem Gesicht um Hilfe bat. Er habe mal wieder rasende Kopfschmerzen. Dr. Sanders faßte ihn bei den Schultern und drehte ihn in Richtung Ausgang. "Heute kamen nur Gesunde zu mir, da paßt du überhaupt nicht in die Szene, Johannes!" Aber dann gab er ihm doch noch Schmerztabletten mit.

Einen Tag danach feierte Familie Sanders mit den Mitwirkenden der Sketche den Geburtstag des Arztes. Sie saßen in einem Restaurant und redeten und lachten durcheinander, als ihnen der Doktor versicherte, wie gut sie gewesen seien. "Wie hast du trotzdem erraten, daß ich dahinterstecke, Papa?" fragte Olivia. Ihr Vater lächelte. "Weil diese Idee nur von dir sein kann, mein Schatz. Aber hoffentlich geschieht mir das nicht noch einmal, sonst kann ich meine Praxis bald schließen."


Sommerabend am Bahnhof
von Christel Poepke

Die Zeiger

der Normaluhr

nehmen keine Sekunde zurück,

auch nicht

für diesen Aprikosenhimmel,

und

noch während

der Nachtzug

in seine Geschwindigkeit gleitet,

tragen die

Zurückbleibenden

Laternenlicht

in ihren Haaren

nach Hause.

 
     
     
 
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