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Neue Mehrheiten in Europa

 
     
 
Nach einem Bericht der führenden französischen Wirtschaftszeitung "Les Echos" wäre es möglich, daß der deutsch-französische Entwurf für eine Reform der europäischen Institutionen ohne große Änderungen vom EU-Konvent angenommen werden könnte. Dieser Entwurf wurde kurz vor den Feierlichkeiten zum Anlaß des vierzigsten Jahrestages des Elysée-Vertrages von Bundeskanzler Schröder
und Frankreichs Staatschef Chirac unterbreitet, die zu einem informellen Treffen in Paris zusammengekommen waren.

Die Reaktionen der britischen und spanischen Zeitungen zu diesem gemeinsamen Vorhaben waren äußerst günstig ausgefallen, vielleicht, weil die Staatlichkeit der Nationen im Rahmen des europäischen Zusammenwachsens bewahrt blieben. In amtlichen französischen Kreisen heißt es, der deutsch-französische Reformentwurf würde den dreieckigen Charakter der EU-Institutionen aufrechterhalten: Kommission - Ministerrat - Parlament. Der Kommissionspräsident sollte zukünftig vom Europaparlament gewählt werden, während der Ministerrat von einem für zwei Jahre gewählten Vorsitzenden geleitet würde. Verhandlungen sind diesbezüglich nicht auszuschließen, obwohl es allgemein erwartet wird, daß die Schaffung der Stelle eines echten EU-Außenministers von den zukünftigen fünfundzwanzig EU-Mitgliedern ohne Probleme akzeptiert werde.

Im Ministerrat mit 25 Mitgliedsländern werden Deutschland und Frankreich je über 29 Stimmrechte verfügen, also gemeinsam über 58 gegen 263 für die dreiundzwanzig übrigen EU-Mitglieder. Es wird 321 Stimmrechte im Ministerrat geben und die qualifizierte Mehrheit wird 232 Stimmrechte betragen. Dies bedeutet, daß die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreffende Beschlüsse nur mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden könnten, daß sowohl Deutschland und Frankreich über keine Sperrminderheit verfügen und auf Bündnisse mit anderen großen EU-Mitgliedern angewiesen sein werden. Der ehemalige Außenminister Lionel Jospins und Generalsekretär der französischen Staatspräsidentschaft unter Mitterrand, Hubert Védrine, meint in diesem Zusammenhang, Europa werde nicht mehr bilateral, sondern multilateral sein.

Diese Neuorientierung der europäischen Politik dürfte sowohl Berlin als auch Paris gefallen. Trotz dem Bekunden der deutsch-französischen Freundschaft wurde stets der Elysée-Vertrag von den führenden französischen Politikern als ein Mittel betrachtet, die Politik Frankreichs im Rahmen des gemeinsamen Marktes zu fördern, während Deutschland sich Dank der pro-atlantischen Präambel zum Elysée-Vertrag gegen die kontinentalen EU-Reformpläne de Gaulles gewehrt hatte. Insofern dürfte der europäische Motor "Deutschland - Frankreich" zukünftig immer mehr nach Brüssel und den innereuropäischen Debatten gerichtet und auf keinen Fall als die Basis für eine unabhängige gemeinsame deutsch-französische Sonderpolitik angesehen werden. Wie der französische Staatschef dem konservativen "Le Figaro" in einem langen Interview erklärt hat, bestehe der Ehrgeiz Deutschlands und Frankreichs darin, Europa "neu zu gründen". Der vierzigste Jahrestag des Elysée-Vertrages wurde so gemäß den Wünschen Chiracs und Schröders, eine durchsetzungsfähige EU-Reform vorzuschlagen, davon beeinflußt, daß weder Berlin noch Paris etwas gegen den Willen anderer EU-Verbündete unternehmen wollen oder können.

Indem er mit dem Mißerfolg einer deutsch-französischen Sprachenpolitik konfrontiert ist, schlägt Jacques Chirac vor, daß ab der Grundschule zwei Fremdsprachen unterrichtet werden. Nach von der liberalen Tageszeitung "Le Monde" zitierten Zahlen lernen in Frankreich weniger als eine Million Gymnasiasten Deutsch als Fremdsprache. Nur 7,9 Prozent der Schüler lernen Deutsch als erste Sprache gegen 12,7 im Jahre 1990. Die deutsche Sprache als zweite Fremdsprache rückt immer mehr hinter dem Spanischen zurück. Insgesamt ist dadurch eine Anstrengung unabwendbar, damit verhindert wird, daß abgesehen vom Elsaß der Deutschunterricht in Frankreich sich immer mehr verringert. "Das alltägliche Europa", das sich das Londoner Kabinett wünscht, dürfte ohne ausreichende Sprachkenntnisse immer mehr von London und Washington bestimmt sein, ohne daß Berlin und Paris sich in der Tat zu Wort melden.
 
     
     
 
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