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Rebellion und Nüchternheit

 
     
 
Der nicht mehr kandidierende Vorsitzende Jürgen Trittin, heute als Umweltminister im Dienstwagen unterwegs, gestand offen ein: Die Parteiorganisation liegt am Boden. Und die Erfolge bei den Bonner Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten lassen sich in fast allen Punkten mit dem Wort "Einstieg" beschreiben. Aus Sicht vieler grüner Funktionäre ist das zu wenig.

Der Koalitionsvertrag mit der SPD ist nicht mehr zu ändern. Aber ihre Organisation wollen die Grünen schlagkräftiger machen und führen daher einen "Länderrat" ein, der Bonner Minister, Abgeordnete, Ländervertreter und Basis besser zusammenführen soll. Im Ergebnis wurde dem Zufall Vorrang vor der Qualität gegeben. Die Frauenquote
allein mag man noch akzeptieren. Aber wenn von zwei Länderrats-Kandidaten mit gleicher Stimmenzahl der Bewerber mit Mandat aus dem Rennen muß, weil sonst die Abgeordneten-Quote zu hoch würde, dann stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieses Verfahrens.

Die Grünen haben die Quotierung auf eine einsame Spitze getrieben: Männer gegen Frauen, Abgeordnete gegen Nicht-Abgeordnete, Realos wollen berücksichtigt werden, Fundamentalisten auch. Und über allem thront eine innere Quote, die besagt, daß Vertreter aus den neuen Ländern auch in die Gremien gewählt werden müssen. Sie stand wohl "eher als Aushängeschild für die Dreifachquote zur Wahl", erinnert sich die in Leipzig mit 84 Prozent eindrucksvoll im Amt bestätigte Parteisprecherin Gunda Röstel. Sie ist Frau, hat kein Mandat und gehört zum "Realo"-Flügel.

Die Aussichten, daß durch die Strukturreform die Organisation und Schlagkraft der Partei verbessert wird, dürften daher eher schlecht sein. Nach wie vor besteht auch bei den Grünen das Problem, daß in keiner Satzung vorgesehene Bonner Kungelrunden Entscheidungen in die Wege leiten. Und der eigentliche Star der Partei, der mächtige und in Leipzig wie eine Primadonna gefeierte Außenminister Joseph Fischer, bleibt den Gremien fern. Er macht sich über die Reform lustig und verweist auf seinen vollen Terminkalender, der eine Kandidatur nicht zulasse.

Mit der Wahl der fundamentalistischen Hamburgerin Antje Radcke zur gleichberechtigten Sprecherin neben Gunda Röstel haben die Grünen jetzt eine weibliche Doppelspitze. Die erst vor fünf Jahren von der SPD zu den Grünen gewechselte Quereinsteigerin bekommt mit 75 Prozent der Stimmen ein eher mageres Ergebnis. Gegenkandidaten treten nicht auf, und falls doch, können sich die Delegierten nicht entscheiden: Drei Wahlgänge brauchen sie, um Reinhard Bütikofer zum neuen Bundesgeschäftsführer zu wählen.

Basis-Rebellionen gegen die mit Ministerämtern und Abgeordnetenmandaten bewährte Führungsgruppe erschöpfen sich in Kuriositäten. So darf das grüne Bundestreffen auch künftig nicht Bundesparteitag heißen, sondern es bleibt bei der zungenbrecherischen Bezeich-nung "Bundesdelegiertenkonfe-renz". Und Minister wie Fischer und Trittin, so beschließt eine hauchdünne Mehrheit, sollen künftig 6000 statt bisher 4200 Mark im Monat an die Parteikasse abführen.

Wegweisendes, Bahnbrechendes oder Kurswechsel sind nicht angesagt. Eine Mehrheit verlangt ein neues Grundsatzprogramm und gibt damit einem Gefühl Ausdruck, das die neue Sprecherin Radcke formuliert. Nichts wäre "tödlicher für unsere Partei, als die Visionen, Ideen und Ziele in den Köpfen unserer Mitglieder aus dem politischen Denken und Handeln zu verbannen und uns damit dem Diktat der Machbarkeit zu unterwerfen".

Antje Radcke, die sich "nicht gebeugt und bekleidet mit einem Lendenschurz hinter der SPD herziehen lassen will", bäumt sich noch einmal auf: Dem gegen massiven Ausländerzuzug redenden Innenminister Otto Schily (SPD) wirft sie "niedrigstes Stammtischniveau" und "Zündeln am sozialen Frieden in unserer Gesellschaft" vor. Doch kein revolutionärer Hauch ist zu spüren, Langeweile bricht sich Bahn.

Die letzte kleine Rebellion richtet sich gegen den als Sponsor in der Halle auftretenden Tabakkonzern Reemtsma. Was wäre, empört sich ein Delegierter, wenn beim nächsten Treffen die Mineralölwirtschaft oder die Atomindustrie als Sponsor aufträte? Der aufrechte Kämpfer wird niedergestimmt. Die Hamburger Zigarettendreher dürfen weiter Schnitzel und Frikadellen an die Prominenz verteilen. Einfache Delegierte kommen jedoch in die Reemtsma-Lounge nicht rein, weil sie keinen Spezialausweis haben. Man merkt: Alle sind gleich, aber auch bei den Grünen sind einige etwas gleicher als die anderen.

 

 
     
     
 
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