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Undank ist der Welten Lohn

 
     
 
Neuerdings ist zumindest in vereinzelten Sonntagsreden das Nachdenken über Tugenden wieder zu Ansehen gekommen. Das ist in einer Massen- und Spaßgesellschaft keineswegs selbstverständlich. Bevor die "ehrenwerte Gesellschaft" vollends gegen die Wand zu fahren droht, besinnt man sich doch wieder mehr auf Bewährtes. Meinungsmacher, die Tugend schon für tot erklärt hatten oder bereit waren, sie dem Aussterben zu übergeben, sind vorsichtiger, nachdenklicher geworden. Weil man nicht ohne Tugenden auskommt, soll es besser mit diesem Sterben ein Ende haben. Über sie jedoch mit wohlformulierten Worten zu sprechen scheint weitaus leichter zu fallen, als sie am konkreten Beispiel selbst zu beherzigen. Nicht fehlende Erziehung oder Herzenskälte sind die eigentlichen Widersacher der Tugenden, sondern die Trickkiste, mit der viele gekonnt Entschuldigungen suchen, um vom Pfad menschlicher Tugenden ohne nennenswerten Gesichtsverlust abweichen zu dürfen.

Ein Wort, das zu meinen Kindertagen hoch im Kurs stand, das im Elternhaus, in der Schule, dem Konfirmandenunterricht zum Standard zählte, im Zuge der Fortschrittsgläubigkeit aber aus dem Katalog
selbstverständlicher Erziehungsziele zunehmend verschwand, ist das Wort Dankbarkeit. Dankbar zu sein gilt vielen als altmodisch, überholt, gestrig. Dankbar zu sein scheint nicht mehr erforderlich. Wofür, warum oder wem dankbar sein? Die prall gefüllte Kühltruhe, die üppigen Auslagen der Geschäfte werden heutzutage als Selbstverständlichkeit hingenommen. Daß 1945 ein Strohsack, ein paar am Wegrand gefundene Kartoffeln, eine trockene Stulle große Freude auslösten, uns damals überaus dankbar machten, ist in der heutigen Überflußgesellschaft höchstens denen noch zu vermitteln, die die Kriegs- und Nachkriegszeit selbst erlebt haben. Den verwöhnten Generationen danach sind solche selbsterlebten Erinnerungen lästig und unbegreiflich. Hungernde dieser Welt - so hört man mitunter zynisch aus Kreisen der Generation Golf - sind selbst schuld an ihrer Situation. Da Dankbarkeit immer ein sehr persönliches Verhältnis zur jeweiligen Situation und Charakter voraussetzt, macht schon dieser Umstand klar, daß es keine festen Regeln gibt, wie man zum Beispiel in dieser oder jener Situation zu reagieren hat. Individuelle Reaktionen geben Auskunft über die jeweilige Lebenserfahrung, Erziehung und Persönlichkeit.

Es gibt Kinder, die ihren Eltern, Schüler, die ihren Lehrern, oder Patienten, die ihren Ärzten gegenüber aus gutem Grund dankbar sind. Von Sozialhilfeempfängern grundsätzlich Dankbarkeit zu erwarten gilt in manchen besonders fortschrittlichen Kreisen bereits als Diskriminierung, weil jene lediglich ihnen angebotene Rechte geltend machen. Auch was Kindern heute zusteht, haben inzwischen Politiker, Gerichte festgelegt. Von möglichen Ansprüchen der Eltern hingegen spricht niemand. Im juristisch abgestimmten Pflichtenkatalog der Eltern, in dem das Wort Dankbarkeit übrigens nicht vorkommt, werden Pflichten und Rechte recht einseitig verteilt. Seine Kinder zu verhätscheln, sie zu schrecklichen Egoisten zu erziehen bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Dafür aber jemals Dankbarkeit zu erwarten oder gar zu verlangen birgt nach Meinung fortschrittsgläubiger Reformer die Gefahr in sich, Kinder durch "solche Wohltaten" in ein repressives Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, das dem freien Wechselspiel von Geben und Nehmen zum Beispiel in intakten Familien grundsätzlich widerspreche. Das klingt in manchen Ohren überzeichnet, weil es erfreulicherweise immer noch häufiger - im Vergleich zu anderen Tugenden - Realität ist, daß Kinder ihren Eltern gegenüber dankbar sind. Da Dankbarkeit oft ohne großes Aufheben geschieht, ist Dankbarkeit mitunter zu einer sprachlosen Tugend mutiert.

Im klassischen Tugendkatalog des Thomas von Acquino ist Dankbarkeit nicht enthalten. Dort sind neben den drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe lediglich die weiteren vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Beachtung des Maßes aufgeführt. Daß Dankbarkeit in dem Kanon unerwähnt bleibt, erklärt sich aus dem mittelalterlichen Selbstverständnis, nach dem der Mensch ausschließlich als Handelnder beurteilt wird, der im Sinne Kants mit Hilfe seines Verstandes und seines Herzens sein jeweiliges Handeln ständig überdenken soll. Von Dankbarkeit indes kann nur bei einem Verhalten die Rede sein, das der zeigt, für den etwas Gutes getan wird. Wer nur um der öffentlichen Anerkennung oder des Dankes willen hilft, setzt den Menschen herab, dem er zu helfen vorgibt. Wer aber Hilfe empfängt, die über das Normalmaß hinausgehen, ohne selbst dankbar zu sein, setzt sich selbst herab, erweist sich unbewußt einen schlechten Dienst.

In einer Ellenbogengesellschaft, in der das Wort Dankbarkeit in bestimmten Kreisen seltener bis gar nicht vorzukommen scheint, bedarf es mehr denn je der beispielgebenden Vorbilder. Gelegenheiten zu danken gibt es immer. Schon für die scheinbar kleinen alltäglichen Dinge im Leben dankbar zu sein zeigt menschliche Größe und Überlegenheit. "Undank ist der Welt Lohn", sagt zwar der Volksmund, doch tröstlich zu wissen ist, daß selbst das keineswegs immer zutrifft.
 
     
     
 
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