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Unter Männern

 
     
 
Zuerst sieht Herr Kramer nur die Kinderhand, die nach der Klinke der Ladentür greift und sie langsam herunterzieht. Ein kleiner Junge zwängt sich durch den schmalen Spalt. Er läßt die Tür nicht offen stehen, sondern lehnt sich mit der Schulter dagegen und drückt sie zu.

Der Knirps, etwa sechs Jahre alt, bleibt einen Moment stehen und schaut sich im Laden um. Dann geht er zögernd auf Herrn Kramer zu. Seine Wangen leuchten frisch und rot. Die hellblauen Augen blicken den Inhaber des Kunstgewerbeladens geradewegs an.

Herr Kramer beugt sich lächelnd über die Verkaufstheke. "Was soll s denn sein?" begrüßt er seinen kleinen Kunden.

Der Junge hält die linke Hand tief in der Jackentasche vergraben. Er zögert, weil er nicht so recht weiß, wie er beginnen soll. Doch dann faßt er einen Entschluß und sagt im Tonfall aufrichtigen Bedauerns: "Das kleine, graue Eselchen ist kaputtgegangen."

"Welches Eselchen?" fragt Herr Kramer interessiert.

Der Knirps zieht die Hand aus der Tasche und stellt eine Tonplastik auf den Ladentisch. Es ist die zierlich geformte Figur eines Grautiers, das mit störrischer Geste die Vorderbeine von sich streckt. Aber auf dem vorgereck-ten Hals fehlt der Kopf. Er ist unzweifelhaft abgebrochen.

Herr Kramer sieht den Jungen fragend an. "Ist es dein Eselchen?"

"Nein, es gehört meiner Mutti", erklärte der Kleine mitteilsam. "Vati hat es ihr geschenkt, weil sie so lange nicht miteinander gesprochen hatten. Vorher war nämlich ein großer Krach zwischen ihnen ..."

"Nun ja, das kommt schon mal vor", meint Herr Kramer verständnisvoll.

"Es soll aber nicht mehr vorkommen, hat Vati gesagt", widerspricht der Knirps entschieden. "Deshalb hat er ja das Eselchen für Mutti gekauft, damit sie es nicht vergißt ..."

Herr Kramer errät schnell, was sich hinter der Andeutung verbirgt. Am Ehehimmel der Eltern des Kleinen war offenbar vor einiger Zeit ein heftiges Gewitter aufgezogen. Doch es endete nicht versöhnlich. Blitz und Donner waren zwar verebbt, hatten aber keinen neuerlichen Sonnenschein, sondern beharrliches Schweigen gebracht.

Dann entschloß sich der Vater, die Meinungsverschiedenheit endgültig beizulegen. Er schenkte seiner Frau den kleinen Esel - gewissermaßen als Symbol für ihre beiderseitige unnachgiebige Dickköpfigkeit. Ein hübscher Einfall, der auf Humor schließen ließ.

"Und nun hat deine Mutti das Eselchen versehentlich zerbrochen?" vermutet Herr Kramer.

Der Junge schüttelt den Kopf. "Nein, mir ist es heruntergefallen - ganz plötzlich ..." Er zögert, bevor er mit der ganzen Wahrheit herausrückt. "Ich durfte doch nicht damit spielen, weil ... weil das Eselchen nicht mir gehört ..."

Herr Kramer schmunzelt nachsichtig. "Ich verstehe. Und deshalb brauchst du jetzt ein neues Eselchen, damit niemand merkt, was geschehen ist. Eines, das genau so aussieht wie dieses hier."

Der Kleine nickte eifrig. "Im Schaufenster steht genau das gleiche. Ich will es kaufen."

Damit faßt er in die andere Jackentasche, zieht eine Sparbüchse aus bunt bemaltem Blech hervor und schiebt sie auf die Ladentheke. Es scheppert hell. Ein untrügliches Zeichen dafür, daß sich nicht allzuviele Münze
n darin angesammelt haben. Vertrauensvoll reicht der Junge Herrn Kramer einen winzigen Schlüssel.

"Was kostet das Eselchen?" will er wissen.

"Nun, wir wollen erst einmal sehen, wieviel Geld in deiner Sparbüchse ist", weicht Herr Kramer aus. Er öffnet die Klappe am Boden und schüttet den Inhalt auf die Theke. Groschen und einige Fünfzig-Pfennig-Stücke rollen über die Platte. Dazwischen blinken einsam fünf Mark.

Der Junge beobachtet aufmerksam die Handbewegung, mit der Herr Kramer das verstreute Geld einsammelt. "Bleibt noch etwas übrig?" fragt er besorgt.

"Wenn die Sparbüchse ganz leer ist, dann merkt meine Mutti es bestimmt ..." - "Du hast recht", bestätigt Herr Kramer mit Verschwörermiene. "Das darf auf keinen Fall geschehen."

Die Umsicht des kleinen Jungen beeindruckte ihn zusehends. Doch dann kommen ihm plötzlich Bedenken. "Weiß deine Mutter eigentlich, daß du von zu Hause fortgegangen bist?"

"Ich bin nicht allein gegangen", sagt der Knirps. "Mutti hat mich zum Friseur mitgenommen. Sie geht nämlich gern zum Friseur. Aber ich mag Haarschneiden überhaupt nicht. Man muß dabei immer so lange still sitzen."

Diesem Argument kann Herr Kramer sich nicht verschließen. Gedankenvoll streicht er mit der Hand über den Kopf. Von der einstigen Lockenpracht ist nur noch ein spärlicher Rest geblieben - und die Abneigung gegen das untätige Herumsitzen auf dem Frisierstuhl, die ihn mit seinem kleinen Kunden über den Altersunterschied hinweg verbindet.

Ohne daß der Junge etwas davon bemerkt, steckt Herr Kramer die Münzen wieder in die Spardose zurück, nimmt das Grautier aus gefärbtem Ton aus dem Schaufenster und verpackt es sorgfältig in eine Pappschachtel.

"Du mußt aber acht geben, daß das Eselchen nicht noch einmal zerbricht. Ich habe nämlich kein anderes mehr davon."

Der Junge nickt ernsthaft und läßt Sparbüchse und Pappschachtel in seinen Jackentaschen verschwinden. Herr Kramer winkt ihm zu und legt den Finger an die Lippen. Der Kleine lächelt verschmitzt. Er hebt ebenfalls die Hand zum Mund und erwidert die bedeutungsvolle Geste: geheimes Einverständnis unter Männern, die sich ohne viele Worte verstehen.
Ländliches Idyll: Ein Junge hütet die Gänse wie in alten Zeiten (bei Wigrinnen am Beldahnsee)
 
     
     
 
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