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Utgelese ward nich

 
     
 
Genau diese Worte sagte Heinrich Globien zu dem jungen Mann, der im schwarzen Anzug vor ihm stand. Er sagte es ganz ruhig, ganz ohne Groll, aber doch so, daß dieses auch die Stille vor dem großen Sturm bedeuten könnte.

Es ging hier jetzt keineswegs um Kartoffeln oder Rüben, die in große und kleine verlesen werden mußten, sondern Hans-Joachim stand hier, um einen Heiratsantrag zu machen. Er kam, um die Hand der jüngsten Tochter Barbara zu bitten. Die Uhrzeit war etwas ungewöhnlich, aber Barbara hatte die Zeit am frühen Vormittag empfohlen, sozusagen als Überraschungseffekt.

Wenn ein Bauer fünf Töchter hat und nur einen männliche
n Erben, dann kann es sein, daß er ein wenig an Planwirtschaft denken muß. Denn fünf Töchter standesgemäß auszusteuern, ist selbst für einen wohlhabenden Bauern ein nicht zu unterschätzender Faktor. Fünf Söhne wären ihm ja lieber gewesen - aber auch bloß vielleicht. Denn er war ja stolz auf seine so schönen Mädchen und hätte sich für sie eher in Stücke hacken lassen, als daß ihnen ein Haar gekrümmt würde.

Aber heute und hier fand nun mal die Realität statt. Ja, da erdreistete sich doch einer und kam am frühen Morgen, um nach der Hand der jüngsten Tochter zu fragen, wo es doch noch zwei ältere unverheiratete Schwestern im Hause gab. Das war doch gegen jede Sitte und Moral, das wußte doch jeder - und in Ostdeutschland überhaupt. Innerlich war der Bauer etwas ratlos, die Situation war ihm neu, denn immer wurde doch zuerst das Älteste weggegeben, egal, ob im Haus oder im Stall, wo sollte das sonst hinführen.

Seine erste und auch die zweite Tochter waren zum Glück schon verheiratet und unter der Haube. Bei Henrietta auf Gut Karkelken gab es sogar schon Enkelchen, und alle ähnelten sie ihm oder seiner Frau. Das freute ihn besonders. Aber trotzdem waren noch drei Mädchen da, und Maximilian, der Junge. Aber der kriegte ja den Hof. Blieb allerdings eine Schwester ledig, mußte er sie auf dem Hof behalten, wenn sie es wollte. Aber zwei Frauen am Herd waren auch nicht immer einfach.

Gisela, die dritte der Schwestern, war allerdings auch schon in festen Händen. Der junge Mann hatte sich zwar noch nicht erklärt, aber das Paar schien sich einig zu sein. Lange wollte der Bauer da aber nicht mehr zuwarten, da konnten falsche Gedanken aufkommen. Ordnung regierte nun mal das Leben. Einzuwenden war gegen den Richard Makuth nichts, nein, aber vorher mußten ja die gegenseitigen Besuche auf den elterlichen Höfen stattfinden. Es mußte doch darüber gesprochen werden, was die Marjell mitkriegt. Wenn alles zufriedenstellend verlief, könnte die Hochzeit noch in diesem Herbst stattfinden. Gisela hatte es aber gar nicht so eilig. Als Lehrerin an der Staatlichen Mädchengewerbeschule in Königsberg, die von Barbara, der Jüngsten, als Klopsakademie bezeichnet wurde, besaß sie mehr Freiheiten, als sie sie später als Bäuerin haben würde. Und genau wegen diesem vorher genannten Bärbelchen, der Allerjüngsten, stand jetzt der junge Mann vor ihrem gestrengen Vater und stotterte an dem einstudierten Heiratsantrag rum. Die unübliche Zeit brachte alles durcheinander, war aber ein geplanter Schachzug von Bärbel. Sie kannte ihren Vater und seine Statuten so gut wie keine seiner anderen Töchter und darum war sie fest entschlossen, so bald als möglich zu heiraten - wenn es sein mußte, auch gegen des Vaters Verbot. Sie wollte sich nicht vorschreiben lassen, wer zu ihr paßte. Sie hatte nämlich ein großes Hindernis auf ihrem Lebensweg, und das war Lydia, die vierte der Töchter.

Nach Vaters Ansicht mußte es immer hübsch der Reihe nach gehen, immer die ältere vor der jüngeren. Aber Lydia wollte von den Männern nichts wissen. In ihren Augen waren es alles nur Tyrannen. „Ei, öck war doch nich so eenem damlige Keerl hierade, dem mi de Voader utseekt. Öck ganz alleen häw dem doch denn mien ganzet Läwe lang am Hals, öck bruk keinem Mann.“

Dazu war sie Bibliothekarin, „von Kultur belesen und be- leckt“, wie Bärbel auch hier wieder vorlaut verbreitete. Natürlich beschäftigt in der größten Buchhandlung von Königsberg, ja in ganz Europa: bei Gräfe & Unzer. Und das hieß schon was. Daß der Buchhalter, so ein langer Lulatsch, schon längst ein Auge auf sie geworfen hatte, das wollte sie sich nicht eingestehen. Auch nicht, daß sie, sobald er ihr begegnete, ganz rote Backen und heiße Hände bekam. Nein, nein, sie würde nie heiraten. Die Schwestern wußten es längst, erst gestern hatte sie wieder ihren festen Standpunkt vertreten.

Wo Bärbel und Hans-Joachim sich kennengelernt hatten, wußte niemand so recht zu sagen. Sie kannten sich schon lange, o je, das war eine Ewigkeit. Damals schien Bärbel fast noch ein Kind, das keiner beachtete, schon gar nicht der Bräutigam. Aber Barbara, hindurchgegangen durch Freude und Leid ihrer Schwestern, vertraut mit Seelenschmerzen und Liebeskummer, bewandert in Ritualen und Raffinessen, wußte darum recht gut, wie man mit Männern umging, da war auch ihr Vater keine Ausnahme. Er war auch nur ein Mann, und sie würde ihn mit ihren Schmeicheleien schon weich kriegen.

„Dur darfst nicht einknicken“, hatte sie zu ihrem Hans-Joachim gesagt, „auch nicht, wenn der Vater noch so laut braascht. Wenn er das tut, dann haben wir schon halb gewonnen. Das macht er nämlich nur, wenn er nicht mehr weiter weiß. Viel gefährlicher ist es, wenn er vernünftig und ganz ruhig mit dir redet. Dann mußt dich höllisch vorsehen. Aber das eine sage ich dir, wenn du dich mit der Lydia verheiraten läßt, wehe, dann kannst du was erleben. Dem Vater ist nämlich alles zuzutrauen - und hübsch ist sie ja auch. Aber die will dich auch nicht, hat sie gestern noch gesagt, nicht mal für geschenkt.“

Nun war es ja wirklich so gewesen, daß die Eltern von diesem Besuch völlig überrumpelt wurden. Der Vater war bei den Pferden, und die Mutter kochte Beerenmarmelade und -gelee. Da konnte man schon nervös werden. „Wie sull dat bloß goahne, wat ös dat färe Wörtschaft, wo de Buar Jungveeh wechgöwt on de ole Koh öm Stall lätt“, erhitzte sich der Vater. „Nee, junger Mann, dat schloane se söck man utem Kopp.“ Aber da war auf einmal Bärbel da und legte dem Vater die Arme um den Hals. „Ich hab ihn doch so lieb, Vaterche, ... und alles bloß wegen der damligen Lydia, ach Vaterche, sag ja?“ Bald redete sie wie ein Advokat, bald wie ein hilfloses Kind und dann wieder spielte sie alle Raffinessen einer jungen Frau aus.

Der Schauplatz war jetzt in die große Stube verlegt worden, und die Mutter erinnerte sich an ihre eigene Jugend. Ungeachtet aller Einwände hatte sie Bärbel einen Wink gegeben, den Anhalterkuchen hereinzubringen. Daraufhin waren Vaters Einwände ja nur noch die Hälfte wert, und sein „Utgelese ward nich“ schmolz dahin wie der Schnee in der Sonne. Schweren Herzens und doch wiederum froh, Barbara war ja noch so jung, gaben sie ihre Zustimmung und ihren Segen. Mit Hans-Joachim verabredeten sie einen Besuch am nächsten Sonntag bei seinen Eltern, da wollte man sich bekannt machen. Ja, man kannte sich schon, aber doch nicht in so einer Situation.

Draußen gab Bärbel ihrem Bräutigam einen dicken Kuß. „War doch gar nicht so schlimm“, meinte sie, „ich kenn’ doch meinen Vater.“ Hans-Joachim war etwas blaß um die Nase, und sein Hemd klebte unter dem warmen Jackett und der ungewöhnlichen Anstrengung. „Ich bin froh, daß das vorbei ist, das ist ja viel schlimmer, als ein ganzes Feld mit Ochsen umzupflügen.“

 
     
     
 
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