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Wundersame Begegnung im Stadtpark

 
     
 
Es war eine kalte, klare Nacht. Die Sterne der letzten Dezemberstunde dieses Jahres flimmerten wie feine Kristalle auf samtenem Grund. Der Teich des Stadtparks war bereits zugefroren. Zwischen den Ästen der kahlen Birken hing ein weißer, glanzloser Mond und warf sein mattes Licht auf die dunklen Bänke.

Ich erschrak. Saß dort nicht jemand? Ja, kein Zweifel.

Mit einigen Schritten hatte ich die Bank erreicht. "Guten Abend", sagte ich.

"Guten Abend."

Es war ein alter, weißhaariger Mann. Barhäuptig. Die Hände in den Taschen seines abgetragenen Mantels. Völlig in sich zusammengesunken saß er da, dieser Mensch, für den ich sofort tiefstes Mitgefühl empfand. "Frieren Sie denn nicht?" fragte ich. "Sie werden sich den Tod holen!"

"Ja, so wird es wohl sein."

"Gehen Sie doch nach Hause, Menschenskind!" sagte ich.

"Das ist auch meine Absicht", sagte der Mann. "Ich bin sehr müde. Aber ich habe noch ein paar Minuten Zeit."

Ich hielt ihm meine Zigarette
nschachtel hin.

"Nein, danke", wehrte der Alte ab, "ich rauche nicht mehr. Ich habe mein Quantum weg. Gewissermaßen meine Jahresration."

"Wo wohnen Sie denn?" fragte ich.

"Hier", sagte der Mann. "Hier in der Stadt. In allen anderen Städten aber auch. Nicht nur in den Städten. Überall."

"Sie sind wohl Vertreter? Handlungsreisender?"

Er lachte. "Jaja, man kann es fast so nennen. Aber man hat mir bereits bei meiner Einstellung gekündigt. Nun ja, ich bin alt, sehr alt, und die Jungen wollen ja auch mal ran!"

"Waren Sie wenigstens erfolgreich während Ihrer … sicher sehr langjährigen Tätigkeit?"

"Langjährig!?" Er schien zu überlegen, der Alte. "Nun ja, alles in allem ein Jahr. Ein geschlagenes Jahr! Und ob ich – oder dieses Jahr, was dasselbe ist – erfolgreich war, das kann ich nicht beurteilen. Das festzustellen liegt bei euch Menschen."

"Wieso? Sind Sie etwa kein Mensch?"

Er antwortete mit einer Gegenfrage: "Kann ein Mensch sich in Luft auflösen?"

"Natürlich nicht!" sagte ich.

In diesem Augenblick begannen ringsum in der Stadt die Glocken zu läuten und die Kanonenschläge zu donnern – und mit dem ersten Glockenschlag löste sich der weißhaarige Alte in Luft auf. Statt seiner hockte auf der Bank ein Kind. Ein kleines Kind. Gähnend noch und in einem unschuldig weißen Babyhemd.

"Wie kommst du denn hierher?" fragte ich verwundert. "Gehörst du nicht längst ins Bett?"

"Ich bin doch gerade erst aufgewacht", sagte das Kind. "Mein Vater, Sie haben ihn ja gesehen, hat mich selbst geweckt. Er hat mir ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben, einmal kurz auf meinen Po geklatscht und ,nun lauf man los!’ gesagt …"

Mir ging ein Licht auf. Ich fragte: "Dann bis du also das neue Jahr?" – "Ja, das bin ich."

"Was wirst du uns denn bringen?" erkundigte ich mich. Hoffentlich nur Gutes, ja?"

"Ich bringe euch", sagte das Kind, "365 Tage, und es liegt ganz bei euch, was ihr damit anfangt!" Sprach’s, gähnte noch einmal und lief dann freudestrahlend und jauchzend davon.

Außer Atem kehrte ich zu meiner Silvestergesellschaft zurück. "Stellt euch vor", rief ich, "ich habe sie beide gesehen, das alte und das neue Jahr!"

"Soso – das haben wir auch!"

"Aber ich habe sogar", sagte ich, "mit ihnen gesprochen! Das alte Jahr trug einen schäbigen, abgetragenen Mantel und das neue Jahr ein schönes, weißes Hemd, etwa wie Schneewittchen …"

"Kommt, Kinder, laßt uns tanzen!" rief Lilo. "Ich hab’s ja gleich gesagt: Der Mensch hat zuviel Bowle getrunken!"

 
     
     
 
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