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Zuchthaus im Ostsektor

 
     
 
Es mehren sich Veröffentlichungen von Zeitzeugen, die wahrheitsgetreu über ihre Entwicklung, ihren Werdegang während des zwölf Jahre dauernden NS-Regimes und danach im demokratischen Deutschland berichten. Damals waren sie Kinder, Jugendliche im Alter von zehn bis 19 Jahren. Sie gehörten dem "Bund deutscher Mädel", der "Hitlerjugend" an, zahlreiche waren Schüler der "Napolas". Selbstverständlich fehlte ihnen weitsichtiger Überblick. Sie wuchsen als mißbrauchte Generation mit verlorener Jugend heran. Als es ihnen bewußt wurde, waren sie Erwachsene. So auch Wolfgang Gottschling. Sein Wunschtraum, Journalist zu werden, ging nie in Erfüllung. 1950 ergriff er die Gelegenheit, an der Deutschen Hochschule für Politik in West-Berlin
zu studieren. Ab 1961 arbeitete er beim Bundesamt für Wehrtechnik in Koblenz. Als Pensionär schreibt er die vorliegenden "Jugenderinnerungen". Der Gesamttext wird jeden politisch interessierten Leser faszinieren.

1927 wurde Gottschling in Berlin geboren. Die Mutter stammte aus Masuren. Dort zog es ihn zum Verwandtenbesuch immer wieder hin, auch später als Tourist. Wie so viele zehnjährige Buben wollte er in die "Hitlerjugend" (HJ). Seine geschiedene Mutter riet ab. Doch er suchte Gemeinschaft mit Gleichaltrigen. Ein "Pimpf" unter Pimpfen, das machte Spaß. Mit 16 Jahren wurde er im Kriegsjahr 1943 als Luftwaffenhelfer zur Flak in Berlin-Spandau einberufen. Gottschlings Jugend endete. Von nun an häuften sich die Extremsituationen: "Wie das Schicksal so spielt". Mitte April 1945 stießen die Amerikaner zur Elbe und Saale vor. Bei einem Gefecht wurde Gottschling lebensgefährlich verletzt, geriet in amerikanische Gefangenschaft. Ein Arzt entfernte das Geschoß aus dem Brustbereich. "Glück gehabt", erklärte er kurz. Nach Kriegsende kehrte Gottschling auf abenteuerlichen Wegen in den Westsektor Berlins zurück, wo er seine Mutter wiederfand, die erst als "Trümmerfrau", dann als Verkäuferin für den Lebensunterhalt sorgte. Für Gottschling war an ein Studium vorerst nicht zu denken. Er verdingte sich als "Fremdarbeiter" im Bergbau in Frankreich und Belgien. Man nahm jede sich bietende Arbeit an.

Endlich, 1950, konnte er sein Politik-Studium aufnehmen. Er trat der FDP bei und wurde sehr bald zum Sprecher des Landesverbandes Berlin der Deutschen Jungdemokraten gewählt. Er sah sein Leben in überschaubarer Bahn vor sich. Überschaubar hätte es auch bleiben können, wenn Gottschling nicht am 17. Juni 1953 in den Berliner Ostsektor gefahren wäre, um seiner Cousine beim Umzug zu helfen. An diesem Tag brach der Aufstand gegen die von der SED-Führung geforderten aber unerfüllbaren Arbeitsnormen in der DDR los. An der Französischen Straße geriet Gottschling in eine zusammengeballte Menschenmenge. Schüsse waren hörbar. Gottschling spürte einen Schlag am Hinterkopf, er wurde ins Polizeirevier gezerrt, als Westberliner "Tumult-Rädelsführer" verhaftet. Der "Schauprozeß" gestaltete sich zur gespenstischen Farce. Das Urteil lautete: sechs Jahre Zuchthaus! Auf Intervention des damaligen FDP-Bundesministers Dr. Thomas Dehler wurde Gottschling 1956 entlassen. Noch immer in Angst, man könne ihn zurückhalten, hetzte er zur S-Bahn. Langsam fuhr der Zug in den Westsektor ein. Gottschling war frei. Seine Zukunft konnte beginnen ...

Wolfgang Gottschling: "Wie das Schicksal so spielt - Jugenderinnerungen eines Unbequemen", Frieling Verlag, Berlin, 144 Seiten, 8 Euro 5968
 
     
     
 
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