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Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Gleich drei Länder mokierten sich nach der Wahl in den USA über das Musterland der Demokratie: Kuba, Rußland und Iran. Moskau bot Hilfe beim Nachzählen an, die Mullahs ließen über ihre Medien Hollywood-Geschichten über das Weiße Haus verbreiten, die die Demokratie ad absurdum führen sollen, und Kuba bezeichnete den großen Nachbarn als "Bananenrepublik". Aber gerade diese Länder haben sich in Sachen Demokratie, Freiheit und Wohlstand für alle nicht besonders hervorgetan. Sie kennen das Land nicht.

Anders die Europäer. Vor rund 170 Jahren schrieb Alexis de Tocqueville seine Diagnose und Prognose der demokratischen Staatsform in Amerika. Die Voraussagen haben sich weitgehend bewahrheitet, und es gibt wohl keinen Historiker, der Tocqueville nicht in die Reihe der großen Analytiker der sozialen und politischen Verhältnisse stellen würde. Über die Stimmung bei einer Präsidentenwahl schrieb der Franzose: "Je näher die Wahl heranrückt, desto lebhafter wird das Ränkespiel, die Unruhe wächst und breitet sich aus. Die Bürger scheiden sich in mehrere Lager, deren jedes den Namen seines Anwärters übernimmt. Das ganze Volk wird von einem fieberhaften Zustand erfaßt, die Wahl ist der tägliche Stoff der Presse, der Gegenstand der privaten Gespräche, das Ziel allen Tuns, der Inhalt aller Gedanken, das einzige Interesse der Gegewart".

Was Tocqueville nicht ahnen konnte: Zum ersten Mal gilt das auch eine Woche nach der Wahl, denn es ist immer noch nichts entschieden. Es gibt noch keinen Präsidenten, aber von Unregelmäßigkeiten ist die Rede. Man wird wohl noch bis zum Ende der Woche warten müssen, um zu wissen, wer der 43. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Und wenn die Amerikaner Pech haben, dann dauert es noch bis zum 18. Dezember. Denn dann erst werden die 538 Wahlmänner den Präsidenten wählen und niemand kann heute genau voraussagen, ob diese Wahlmänner nach allem, was passiert ist, auch so abstimmen, wie sie sollten. Es gibt keinen Passus in der Verfassung, der Sanktionen vorsieht für den Fall, daß ein Wahlmann sich nicht an den Brauch hält, "the winner takes ist all" – alle Stimmen eines Staates für den Gewinner der Wahl in diesem Staat.

Die Situation verlangt von den Kandidaten ziemlich viel Nervenfett. Nervöse Ausfälle, Beschuldigungen, Vorwürfe werden erhoben. Für Europäer ist kaum vorstellbar, daß man nach dieser Situation wieder zum "business as usual" übergeht. Die Debatte über eine Reform des Wahlsystems wird lauter, je länger die Unsicherheit andauert. Aber die indirekte Wahl mit dem Wahlmännersystem hatte seinen Sinn. Schon Tocqueville lobte diese Wahl als geeignetes Mittel, um die Unabhängigkeit der Mandatsträger von Interessengruppen oder der Wählerklientel zu gewährleisten. Auf diese Weise könnten die Präsidenten sachgerechter ihren Job erfüllen. Das sieht man noch heute so, und auch die Kandidaten wagen es noch nicht, in die aufkommende Debatte über das Wahlystem einzustimmen.

Alexis de Tocqueville hat auch darüber nachgedacht und prophetische Worte über die Abhängigkeit der Politiker von kleinen Interessengruppen, sprich über die Korruption
, geschrieben. Und er hat dies keineswegs nur auf die Amerikaner bezogen. Auch mit Blick auf sein eigenes Land, Frankreich, formulierte er die Befürchtung, daß die "natürlichen Instinkte der Demokratie letztlich die Völker dazu führen werden, die Edlen von der Macht fernzuhalten". Das mag jeden trösten, der fern der Macht steht, Tocquevilles Verdikt scheint jedenfalls auch für unsere Zeiten zu gelten.

Eigentlich hätte Gore haushoch gewinnen müssen. Anhaltendes Wirtschaftswachstum, Wohlstand für alle, außenpolitisch die einzige globale Supermacht, sozialpolitische Pläne für tiefgreifende Reformen – all das konnten die Demokraten und ihr Kandidat vorweisen. Was will der Wähler mehr? Aber das Fotofinish zeigt, daß die sozioökonomische Entwicklung sich mit den Großdaten der Politik offenbar nicht mehr messen läßt. Bush scheint mit und ohne Sieg das Ergebnis einer neuen Wählergeneration zu sein, die man mit dem Wort Shareholder-value-Wähler umschreiben könnte. Tocqueville ahnte auch diese Gefahr. Er sprach in diesem Zusammenhang von der Tyrannei des Individualismus, die jedes Gefühl für Solidarität vermissen lasse. Noch ist es freilich zu früh, um zugespitzt zu sagen, der Markt entscheide jetzt auch über die Macht, die Börse wähle den Präsidenten. Aber der Trend ist deutlich. Und eine ähnliche Entwicklung könnte auch bei uns greifen. Immerhin hat sich der Wert des Aktienbestandes in den letzten acht Jahren von 180 auf 640 Milliarden Mark erhöht, und daß die Rente sicher sei, daran glaubt inzwischen vermutlich nur noch der Erfinder des Satzes. Aber noch ist Europa im allgemeinen und Deutschland im besonderen weit entfernt vom Volk der Aktionäre. Und ob sich in Europa auch eine Kultur der Nachbarschaft entwickeln würde, die wie in Amerika das Sozialsystem zu einem guten Teil ersetzen würde, darf ernsthaft bezweifelt werden.

Die Amerikaner haben das Privileg, Fehler zu begehen, die reparabel sind, schrieb Alexis de Tocqueville. Nun fragt sich, ob auch die Fehler bei der Wahl am vergangenen Dienstag noch zu reparieren sind. Immer noch wird gezählt, und danach gehen vermutlich die juristischen Reparaturarbeiten los. Eins allerdings läßt sich schon heute sagen: Das Privileg der Amerikaner hat auch mit ihrer geistigen Flexibilität zu tun. Sie können schneller umschalten. Sie sehen zuversichtlicher in die Zukunft – wer immer sie regiert. Die Europäer haben keinen Grund, wegen der Umstände einer Wahl sich über sie zu erheben. Die geistige und politische Nivellierung, die nach Tocqueville der Demokratie innewohnt, kann in Amerika durchaus gestoppt oder umgekehrt werden. Siehe Reagan, der als Schauspieler kam und als Mann der Geschichte ging. Bei Europa darf man angesichts des politischen Personals unserer Tage auch in dieser Hinsicht Zweifel haben.

 
     
     
 
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