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Alles nur erfunden

 
     
 
Spaniens Ministerpräsident Rodríguez Zapatero war eigens ins österreichische KZ Mauthausen gereist, um anläßlich des 60. Jahrestages der Befreiung des Lagers der spanischen Opfer zu gedenken. Doch was als feierlicher Akt gedacht war, ging in den Augen der iberischen Öffentlichkeit in einem unerhörten Skandal unter.

Als Festredner war Enric Marco vorgesehen, bis vergangene Woche Vorsitzender des spanischen "Freundeskreises Mauthausen", in dem die rund 650 noch lebenden spanischen Ex-Häftlinge zusammengeschlossen sind. Kurz vor seinem Auftritt
aber hatte er Österreich überstürzt verlassen. Ein anderer Vertreter der Opfervereinigung las dann seine Rede vom Blatt ab.

Marco war über 30 Jahre Sprecher der Gruppe. Laut seiner Autobiographie "Erinnerung an die Hölle" von 1978 floh der heute 84jährige 1939 vor Franco nach Frankreich, wo er 1941 von der Gestapo und der französischen Polizei verhaftet und zunächst ins Lager Flossenbürg deportiert worden sei. Später habe man ihn nach Mauthausen verbracht, wo die Amerikaner ihn 1945 befreit hätten. In Tausenden von Interviews, öffentlichen Gesprächsrunden und bei Auftritten in Schulen zeichnete Marco ein erschütterndes Bild seiner schrecklichen Erfahrungen. Zuletzt sprach er am vergangenen 27. Januar sogar vor dem versammelten spanischen Parlament über sein angebliches Schicksal.

Vergangene Woche stellte sich heraus: Es war alles gelogen. Nur Stunden nach Marcos Wiederwahl zum Präsidenten des "Freundeskreises" am 1. Mai tauchten bereits die ersten Gerüchte auf. Der Historiker Benito Bermejo hatte im Archiv von Flossenbürg Enric Marcos Namen nicht gefunden. Daraufhin verlangte der Vorstand der spanischen Mauthausen-Überlebenden von ihrem Präsidenten, er möge Beweise beibringen. Das konnte er nicht. Statt dessen trat Marco nach kurzem Zögern von seinem Präsidentenamt zurück und gab zu, alles erfunden zu haben. Zunächst sollte der Skandal diskret behandelt werden, doch nachdem die in Marcos Heimat Barcelona erscheinende Zeitung La Vanguardia den Fall veröffentlicht hatte, war kein Halten mehr. Nun wühlt die Affäre das ganze Land auf.

Nach seiner neuesten Darstellung war Marco aus dem französischen Exil 1941 freiwillig als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen, wo er, als Anarchist, 1942 verhaftet worden sei wegen "Verschwörung gegen das Dritte Reich". Nach kurzer Beugehaft habe man ihn 1943 nach Spanien entlassen.

Die Opferorganisation, der er so lange vorstand, ist entsetzt und empört. Das sei "ein gefundenes Fressen für die Leugner", erklärte der Schatzmeister der Vereinigung, Jesús Ruiz, der Madrider Zeitung El País.

Der ebenfalls in der Hauptstadt erscheinenden Tageszeitung El Mundo sagte Historiker Bermejo, er habe mit Blick auf Enric Marcos Geschichte schon länger Zweifel gehegt. So sei es ihm ungewöhnlich vorgekommen, daß Marco schon 1941 aus dem damals noch unbesetzten Teil Frankreichs heraus von der Gestapo verhaftet worden sein will. Überdies habe es das angebliche KZ-Opfer stets vermieden, mit tatsächlichen Überlebenden über Einzelheiten der Lagerzeit zu sprechen.

Enric Marco geht trotz aller Peinlichkeit in die Offensive. Dem katalanischen Regionalfernsehen gab er - manchmal den Tränen nahe, manchmal "in einem herausfordernden, beinahe empörten Ton" (so El País) - zu verstehen, daß er sehr wohl doch NS-Opfer geworden sei. Nur eben nicht im KZ, sondern in der kurzen Beugehaft. Die Märchen habe er nur erfunden, um den Opfern besser beistehen zu können. Spanien schüttelt sich.

Noch 2001 war Marco mit der höchsten Auszeichnung Kataloniens, dem "Kreuz von Sant Jordi", dekoriert worden. Das habe er "für sein gesamtes Lebenswerk" und nicht bloß für seine (erlogene) KZ-Zeit erhalten, insistiert der Enttarnte heute. Nur wenn die katalanische Regierung eine Rückgabe verlange, werde er das Kreuz wieder herausrücken. Die Vereinigung der spanischen Mauthausen-Opfer hat sich unterdessen Zeit ausbedungen, um den Schock zu verarbeiten, bis sie offiziell Stellung nehmen will.

Die Affäre Enric Marco erinnert an den Fall Wilkomirski. "Binjamin Wilkomirski" war durch sein 1995 veröffentlichtes Buch "Bruchstücke", in dem er seine angebliche Kindheit in Auschwitz durch besonders drastische Gewaltdarstellungen schildert, weltberühmt geworden. Das Werk stieg schnell zum Bestseller auf und erschien bald in zwölf weiteren Sprachen. 1998 flog auf: "Wilkomirski" heißt in Wahrheit Bruno Doesekker, wurde 1941 in der Schweiz geboren und verlebte, als Adoptivsohn einer gutsituierten Arztfamilie, seine gesamte Kindheit in dem friedlichen Alpenland. "Bruchstücke" war nichts als Fiktion. Elisa Wachtner
 
     
     
 
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