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Anders als Grass

 
     
 
Autobiographien scheitern oftmals an einer fehlenden Distanz zur Vergangenheit. Bei Otto-Ernst Duscheleit, der als Mitglied der Bekennenden Kirche 1943 in die Waffen-SS genötigt wurde und schon vor diesem Hintergrund ein interessantes Leben zu erzählen hat, ist es umgekehrt. In seinem Buch "Von der Waffen-SS zum Friedensdienst - Mein Weg aus Schweigen und Vergessen" bricht sich die radikale Distanz zu dem Erlebten und der angelesenen Zeitgeschichte immer wieder Bahn.

"So fühlte ich mich immer wohler bei der Waffen-SS. Brüllte mit, wenn wir abends durch die noch unzerstörte Altstadt von Nürnberg
marschierten: ,SS marschiert in Feindesland, und alles zittert mit. ,Alles zittert mit! Was sang ich da nur? Ich machte mir keine Gedanken über das, was ich da brüllte."

Der 1925 in Insterburg geborene Duscheleit ist zwar glaubwürdig, soweit er sich von der Waffen-SS distanziert. Aber der an der Geschichte interessierte Leser muß sich schon bemühen, das Entsetzen des Autors über das Geschehene und seine eigene Feigheit vor dem Widerspruch zu überlesen und so ein authentisches Bild zu erhalten. Der Autor hat viel zu erzählen: die Situation gläubiger Christen in NS-Zeit und Krieg, Kirchenkampf, der Freitod eines Bruders, dessen Aufsässigkeit und Respektlosigkeit ihn immer wieder in Schwierigkeiten mit Vorgesetzten gebracht hatten, die Korrespondenzen unter anderem mit Hans Graf Lehndorff.

In der Nachkriegszeit gibt es Parallelen zu dem Leben von Günter Grass. Lange spricht Duscheleit, der in keine Kriegsverbrechen verwickelt ist, nicht über seinen Dienst in der militärischen Eliteeinheit. Das ändert sich 1985. Er schließt sich der Friedensbewegung an und nimmt an Begegnungen mit Kindern von Holocaust-Überlebenden teil, spricht vor Schulklassen, auch vor jungen Skinheads. Anders als Grass allerdings verschweigt Duscheleit seine Vergangenheit nicht, sondern macht sie zum Kern seiner Aussagen. Der moralische Anspruch ist bei ihm nicht losgelöst vom Erlebten, sondern letzteres ist vielmehr seine Basis. Duscheleit nimmt dabei auch Aggressionen von Zuhörern in Kauf. Mal ist er ein Verräter, mal ein Nazischwein.

Es ist bedauerlich, daß Duscheleit für die Bewertung mancher Zusammenhänge auch auf fragwürdige Historiker zurückgreift - etwa auf Hannes Heer, der durch Geschichtsfälschung im Zusammenhang mit der sogenannten Anti-Wehrmachtsausstellung unangenehm aufgefallen ist.

Im Vordergrund des Buches steht allerdings die Familiengeschichte und die Scham des Zeitzeugen, weniger die Zeitgeschichte als solche.

Wer Otto-Ernst Duscheleits Buch liest, muß vor Augen haben: Der Autor verarbeitet erlebte Geschichte, aber er ist kein Historiker. G. Langer

Otto-Ernst Duscheleit: "Von der Waffen-SS zum Friedensdienst - Mein Weg aus Schweigen und Vergessen", Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt 2006, broschiert, 208 Seiten, 19,90 Euro, 5975
 
     
     
 
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