A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Aus dem Nest geworfen

 
     
 
Es war an einem Sonntagnachmittag im Frühsommer, als die kleine Familie durch den Wald ging. Sonnenlicht fiel durch die Baumwipfel und malte helle Kringel auf den Weg. Fränzchen lief hin und her und fand überall etwas Neues zum Bestaunen. Er ließ Ameisen über ein Blatt laufen, hockte sich zu einem Käfer ins Gras oder verfolgte einen Schmetterling. Zwischendurch pflückte er Blümchen und brachte sie abwechselnd zu Mama und Papa.

Für ihn war die Welt bunt, schön, und er fühlte sich in ihr geborgen. Als er über eine Wurzel strauchelte, verlange er weinend von seinen Eltern, sie sollten über sein schmerzendes Knie pusten. Die Mutter tat es, aber der Vater sagte, ein so großer Junge dürfe nicht mehr heulen. Der Kleine hielt aber dagegen, daß er noch klein sei und wenn man weinte, täte es gleich viel weniger weh. Er wollte jedenfalls noch lange, lange nicht groß sein.

Zum wiederholten Male sah der Vater heimlich nach der Uhr. Schließlich sagte er, es sei Zeit nach Hause zu gehen. "Liest du mir heute Abend eine Geschichte vor, Papa?" - "Das geht nicht, ich muß heute Abend noch fort." Fränzchen fand das nicht gut. Er sah nicht, wie seine Mutter die Lippen fest zusammenpreßte und er hatte auch nicht gemerkt, daß schon seit einiger Zeit ihr einst so fröhliches Lachen verstummt war.

Da entdeckte er unter einem Baum einen winzigen toten Vogel. "Ist der nun für immer tot, Mama? Warum ist er aus dem Nest gefallen?" Die Mutter erzählte, daß dort vielleicht ein Kuckuck war, und der wollte das Nest für sich alleine haben und auch vom Futter nichts abgeben, und da hat er das kleine Vögelchen einfach aus dem Nest geworfen. "Warum konnte sich der Piepmatz nicht festhalten?" - "Weil der Kuckuck viel größer und stärker ist. So ist das leider im Leben: Die Kleinen und Schwachen werden nicht gefragt, sie müssen sich fügen und leiden."

An einem Tag im Herbst hielt der Umzugswagen vor dem Haus. Mit dem Wort "Scheidung" konnte Fränzchen nichts anfangen. Er wußte aber, daß sie in eine kleine Wohnung umziehen müßten. Sein Blume
nbeet und die Schaukel konnten nicht mit, aber nun lief er emsig herum und paßte auf, daß sämtliche Spielsachen ins Auto geladen wurden. Zum Schluß hob man ihn vorne ins Führerhaus und Mama setzte sich neben ihn. Der Vater trat an den Wagen, hob abschiednehmend die Hand, drehte sich um und ging zum Haus zurück. Erst jetzt schien das Kind in etwa die Tragweite des Geschehens zu begreifen. Der gellende Schrei: "Papa!!!" ließ für einen Augenblick dessen Fuß stocken, doch dann ging er weiter. Das grenzenlose Unverständnis läßt keine Tränen zu, ein großer Junge weint nicht mehr. Er blickt auf das entschwindende Paradies wie ein kleines, aus dem Nest geworfenes Vögelche
 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Leere Worte?

Ein Übermaß an Verständnis

Russlanddeutsche im Ghetto

 
 
Erhalten:
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv