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Befreiung oder Niederlage oder was?

 
     
 
Ab 1934 begann das Deutsche Reich, sich aus dem Strudel von Devisenmangel, Wirtschaftslähmung und Arbeitslosigkeit zu lösen. Es schloß mit 26 anderen devisenarmen Ländern in Südamerika und Südosteuropa bilaterale Handelsverträge
und führte mit ihnen den devisenfreien Handel auf Verrechnungsbasis ein (zum Beispiel deutsche Lokomotiven gegen chilenische Linsen). Dies führte zu neuen Spannungen mit England und den USA. Zum einen "graste Deutschland damit im Vorgarten der USA". Zum anderen waren die Banken in London und New York aus dem Kreditgeschäft zur Vorfinanzierung des Außenhandels dieser 27 Staaten ausgeschlossen, das bis dahin ihre Domäne gewesen war. Dies war, mit den Augen der großen Welthandelsländer gesehen, eine deutsche "Kriegserklärung".

Augenfälliger als diese stille Auseinandersetzung waren jedoch andere Folgen des deutschen Wirtschaftsdesasters nach dem Ersten Weltkrieg. Der Diktator Hitler leitete aus der Not der deutschen Bevölkerung, aus den Verlusten wichtiger Landwirtschafts- und Bergbauregionen und aus der Behinderung Deutschlands im Welthandel seine Begründungen ab, mit denen er seine These rechtfertigte, daß Deutschland "Lebensraum im Osten" bräuchte. Hitler stellte diese Forderung nach Lebensraum zum ersten Mal konkret in seiner geheimen Rede vom 5. November 1937. Er nannte dabei den Anschluß Österreichs und die Annexion der Tschechei als die konkreten Ziele, "um das Anrecht auf größeren Lebensraum" zu befriedigen. Weitere konkrete Ziele mit Bezug auf eine Lebensraumerweiterung erwähnte Hitler bis zum Kriegsbeginn keinmal, auch nicht in Bezug auf Polen. Der spätere Konflikt mit Polen hatte im wesentlichen andere Gründe. So sind die vitalen deutschen Wirtschaftsinteressen 1939 noch keine Kriegsinteressen. Sie werden es aus Hitlers Sicht erst 1941 mit dem Versuch, die Sowjetunion zu erobern.

Das zweite vitale Interesse Deutschlands lag bei den Landesteilen, die zwischen 1919 und 1921 durch Spruch der Siegermächte abgetrennt und Nachbarstaaten angegliedert worden waren. So waren Territorien mit deutschsprachiger Bevölkerung zwangsweise an Frankreich, Belgien, Polen, Litauen und an die Tschechoslowakei abgegeben worden. Deutschland verzichtete gegenüber Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg dreimal vertraglich auf Ansprüche auf Elsaß-Lothringen. Doch mit den östlichen Nachbarstaaten waren solche Verträge nicht geschlossen worden.

Außenminister Stresemann (Deutsche Volkspartei) sagte und schrieb 1925 dazu: "Eine meiner wesentlichen Aufgaben ist die Korrektur der Ostgrenzen: Die Wiedergewinnung Danzigs, des polnischen Korridors und eine Korrektur der Grenzen Oberschlesiens." und "Die Verpflichtung, von jedem Angriff abzusehen, sind wir im Westen eingegangen. Wir haben sie für den Osten abgelehnt ... Der Völkerbund läßt den Krieg frei, wenn in politischen Fragen eine Einigung nicht zu erzielen ist. Ich strebe zwar keine kriegerischen Auseinandersetzungen an, schließe aber auch Grenzänderungen im Osten nicht aus, wenn die unmögliche Grenzziehung im Osten einmal Verhältnisse herbeiführen sollte, die dies erforderlich machen." Dies waren die Richtlinien deutscher Außenpolitik nach Osten, acht Jahre bevor Adolf Hitler deutscher Kanzler wurde.

Danzig war zu der Zeit zu 97 Prozent von Deutschen bewohnt, die ehemalige preußische Provinz Westpreußen noch 1918 zu 70 Prozent. In Oberschlesien stimmten 1921 61 Prozent der Bevölkerung für den Verbleib bei Deutschland. Im Memelgebiet stimmten im Dezember 1938 87 Prozent der Bevölkerung für einen Wiederanschluß an das Deutsche Reich. Und in den neugeschaffenen Vielvölkerstaat Tschechoslowakei waren drei Millionen Deutsche gegen ihren Willen eingegliedert worden.

Keiner der genannten Nachbarstaaten hielt seine den Siegermächten abgegebenen vertraglichen Zusagen über die Menschenrechte und die politischen Rechte der deutschen Minderheiten ein. In Polen waren die Verhältnisse am ärgsten. Nachdem die polnische Regierung das Minderheitenschutzabkommen von 1920 einseitig gekündigt hatte, hatte die Reichsregierung 1934 ein neues Abkommen zum Schutz der deutschen Minderheit in Polen geschlossen. Als auch das nicht eingehalten wurde, schloß die deutsche Regierung im November 1937 ein drittes. Auch das verlor im Frühjahr 1939 seine Wirkung. Deutschen in Polen wurden ihre Geschäfts- und Betriebslizenzen abgenommen, ihre Arztapprobationen entzogen, Bauernhöfe angesteckt sowie ihre Geschäfte boykottiert; und Deutsche wurden auf offener Straße verprügelt. Der ukrainischen und der weißrussischen Minderheit in Polen erging es damals gleichschlecht.

Volksdeutsche, die versuchten, diesem Drama durch die Flucht nach Deutschland zu entgehen, wurden an der Grenze beschossen und erschossen wie Jahrzehnte später Deutsche auf der Flucht aus der DDR in die BRD. Trotzdem gelang allein im August 1939 etwa 80.000 Volksdeutschen die Flucht nach Deutschland. Der damalige Staatssekretär von Weizsäcker schrieb dazu: "Unsere diplomatischen und Konsularberichte aus Polen zeigten, wie 1939 die Welle immer höher auflief und das ursprüngliche Problem, Danzig und Passage durch den Korridor überdeckte."

Die Reichsregierung hatte 1939 der englischen, der polnischen und der französischen Regierung wiederholt mitgeteilt, daß die deutsch-polnischen Differenzen wegen der humanitären Tragödie der Volksdeutschen in Polen "noch in diesem Jahr", noch 1939 geregelt werden müßten.

Das zweite, nicht so drängende Problem war der "Freistaat" Danzig. Die deutsche Hansestadt war 1920 ein eigenes Staatsgebilde, losgelöst vom Deutschen Reich, geworden. Polen genoß im Freistaat Hafen-, Zoll-, Post- und Verkehrsprivilegien und hatte Danzig diplomatisch nach außen zu vertreten. Danzig unterstand dem Völkerbund, nicht Polen. Die Danziger Bevölkerung hatte wiederholt ihren Wiederanschluß an das Deutsche Reich gefordert.

Ein drittes, dringendes Problem war die Verkehrsanbindung des 1919 abgetrennten Ostdeutschland an das Reichsgebiet. Zwischen Pommern und Ostdeutschland lag nun polnisches Gebiet, der sogenannte Korridor. Deutschland mußte für den Verkehr vom Reich nach Ostdeutschland Transitgebühren in Zloty zahlen. Doch der deutsch-polnische Handel erbrachte nicht genügend Zloty, mit denen man die Transitgebühren hätte zahlen können. Andere Devisen wurden nicht akzeptiert. So schloß die polnische Regierung wegen nicht bezahlter Transits eine Straßen- und eine Schienenverbindung nach der anderen. Für den Ersatzverkehr der Waren und Güter über die Ostsee reichten mit der Zeit die Hafeneinrichtungen in Ostdeutschland nicht mehr aus. So begann Ostdeutschland, wirtschaftlich auszutrocknen. Infolgedessen forderte die Deutsche Reichsregierung von den Polen exterritoriale Schienenwege und eine exterritoriale Autobahn durch den polnischen Korridor nach Ostdeutschland.

Die drei Punkte, Wahrung der Menschenrechte der Volksdeutschen, Wiederangliederung Danzigs an das Deutsche Reich und Bau exterritorialer Verkehrsverbindungen nach Ostdeutschland waren die drei Ziele, über welche die Reichsregierung seit Oktober 1938 mit der polnischen Regierung verhandelt hat. Als Gegenwert bot Hitler die Anerkennung der polnischen Gebietserwerbungen in Oberschlesien, Westpreußen und Posen. Solche Zugeständnisse hatte Polen von keiner der 20 Reichsregierungen vor Hitler haben können. Damit war Deutschlands bisheriges vitales Interesse an Gebiets- und Grenzkorrekturen gegenüber Polen erstmals seit 1919 auf Menschenrechte, Danzig und die Korridorpassagen reduziert. Als Polen 1938/39 keine dieser deutschen Forderungen akzeptierte, wurden diese am 1. September 1939 die deutschen Kriegsziele.

Frankreich hatte 1918 sein Interesse, Deutschland links des Rheines und Luxemburg zu annektieren, in den Versailler Verhandlungen gegen das Veto Englands und der USA nicht durchsetzen können. Lediglich das Elsaß und Lothringen gingen für dauernd und das deutsche Saargebiet vorläufig an Frankreich. So blieb die Erweiterung Frankreichs bis zum Rhein und Belgiens Grenzen insgesamt ein unerfüllter Wunsch.

Mit Versailles war es Frankreich allerdings gelungen, Deutschland wirtschaftlich und militärisch zu enthaupten und selber erste Macht des Kontinents zu werden. Ab 1935 mit dem Wiederanschluß des Saargebiets an Deutschland, 1936 mit der Wiederbesetzung des deutschen Rheinlands durch die Wehrmacht und mit der Wiederaufrüstung der deutschen Streitkräfte hatte Frankreich dann einen seiner Versailler "Gewinne" nach dem anderen verloren. Der Wehrmachtswiederaufbau schürte in Frankreich neue Ängste. Man befürchtete, daß ein wieder starkes Deutschland doch noch Ansprüche auf Elsaß-Lothringen erheben könnte. Immerhin hatte das Elsaß im Jahre 1900 eine zu 88 Prozent deutschsprachige Bevölkerung. Deutschland hatte Frankreich nach 1918 - wie bereits erwähnt - dreimal vertraglich zugesagt, endgültig auf beide Landesteile zu verzichten. Doch die französischen Regierungen schenkten dem offensichtlich keinen Glauben.

So versuchte Frankreich, jede Revision des Versailler Vertrags zu deutschen Gunsten zu verhindern und dies konsequenterweise auch im Falle Danzigs und des deutschen Wunsches nach krisensicheren, exterritorialen Verkehrsverbindungen durch den polnischen Korridor. Die Sicherung des Elsaß und Lothringens und das Zurückstutzen Deutschlands auf das "Versailler Maß" waren 1939 Frankreichs Kriegsinteressen. Ein Gedanke an eine Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus spielte dabei keine Rolle.

 Germania am Marterpfahl: Ganz im Geiste dieser Postkarte aus dem Jahre 1920 war die deutsche Außenpolitik bestrebt, Deutschland von den Fesseln von Versailles zu befreien, während die französische Außenpolitik genau dieses verhindern wollte. Foto: Deutsches Historisches Museum
 
     
     
 
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