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Bericht über Fortschritte der Beitrittsländer

 
     
 
Umgeben von Schwaden selbstabgebrannter Nebelkerzen legte der "Beitrittskommissar" der EU-Kommission, Günter Verheugen, einen rhetorischen Eiertanz aufs Straßburger Parkett.

Anlaß war der am 5. November veröffentlichte "Monitoring-Bericht" der Kommission über die "Fortschritte" der Kandidatenländer. Verheugens Eiertanz war vom Gebrauch solcher Worthülsen wie "voraussichtlich", "höchstwahrscheinlich", "vermutlich" oder "es ist zu hoffen" bestimmt.

Diese sollen darüber hinwegtäuschen, daß von einem wirklichen Beitritt am 1. Mai 2004 nicht gesprochen werden kann. Vor allem gilt das für Polen, aber auch für die Slowakei und in geringerem Maße für Ungarn und Tschechien.

Die wichtigsten konkreten Politikbereiche, denen sich die zehn überwiegend ostmitteleuropäischen Staaten anschließen, sind der gemeinsame Agrarmarkt und der Binnenmarkt. Bei beiden ist der

Verzicht auf Kontrollfreiheit an den Grenzen noch undenkbar. Oder anders ausgedrückt: Der mit dem Weißbuch zum Binnenmarkt von 1985 sowie etlichen Urteilen des Europäischen Gerichtshof
es fast heiliggesprochene freie Warenverkehr läßt sich in der erweiterten EU bis auf weiteres nicht umsetzen.

In der Agrarpolitik wirft die Garantie funktionierender Kontrollsysteme für die flächengebundenen Beihilfen an landwirtschaftliche Erzeuger große Probleme auf. Die EU-Behörden sind ja in der Vergangenheit von ihrem ursprünglichen System der Bindung der Einkommenshilfen an die Produkte und ihre Preise fast erdrückt worden und bemessen die Hilfen mittlerweile an den Flächen - unabhängig davon, ob auf Böden wenig oder sogar nichts erzeugt wird.

Dieses System stellt höchste kartographische und administrative Anforderungen und bedeutet auch für die Finanzkontrolle eine außerordentliche Herausforderung, mit der schon die "alte" EU kaum fertig geworden ist.

Nun klagt die EU-Kommission: "Es gibt ein ernsthaftes Risiko, daß kein funktionierendes Kontrollsystem installiert sein wird." Und sie droht damit, daß keine Agrarflächenbeihilfen ausgezahlt werden, wenn sich das nicht ändere. Ehrlicherweise sollte in diesem Zusammenhang aber daran erinnert werden, daß dieses Defizit bereits seit 1992 bekannt ist.

Längst bekannt ist auch das bis zum heutigen Tag fehlende Bemühen insbesondere Polens und der Slowakei, hieran auch nur das mindeste zu ändern.

Die Annahme, diese Unterlassungen könnten binnen sechs Monaten aufgeholt werden, ist bestenfalls als Wunschdenken zu werten. Hier ist nicht nur mit Lässigkeit, sondern mit unglaublicher Ignoranz verhandelt worden.Vielleicht wollte man aber auch alles, was an Mißständen bekannt war, um des "höheren Zieles" der Osterweiterung wegen nicht wahr haben.

Zu den neun (!) Bereichen, bei denen die EU-Kommission jetzt hinsichtlich polnischer Reformrückstände Bedenken äußert, gehört auch die Lebensmittelhygiene. Der

freie Warenverkehr ohne Binnengrenzen beruht vor allem auf der gegenseitigen Anerkennung. Was bei dem einen zulässig ist, das ist es auch bei allen anderen. "Konformitätsprinzip" heißt das in der Sprache der EU-Bürokratie und funktioniert bei Elektrosteckern, Schiffen oder Computern ganz gut. Anders bei Lebensmitteln: dort wird die Fähigkeit zur gegenseitigen Anerkennung nicht durch Standardisierung der Produkte, sondern der Produktionsverfahren garantiert. Jedenfalls sollte es so sein.

Bei Frischprodukten und lebenden Tieren gilt das "Phytosanitär-und Veterinärrecht" des Binnenmarktes, das eines der komplexesten und am schwersten zu handhabenden EU-Regelwerke darstellt. Hier ist es immer wieder zu Skandalen gekommen, besonders bei den Futtermitteln als einem der gefährlichsten Risikobereiche (man denke nur an BSE).

Außer den skandinavischen Mitgliedsstaaten und Österreich blieb in der Vergangenheit keines der alten EU-Länder von derartigen Skandalen verschont. Vor diesem Hintergrund und eingedenk des noch bestehenden technologischen Nachholbedarfs im Osten darf es nicht überraschen, wenn die Brüsseler Kommission nun zugibt, daß im Hinblick auf Polen und die Slowakei von einer "EU-Reife" der Lebensmittelherstellung bei den Hauptprodukten Fleisch und Milch keine Rede sein kann. In Tschechien gelte Gleiches für alle Unternehmen, die überwiegend ins Inland liefern, ebenso in Ungarn. Bloß in Slowenien und Estland bestehen nur noch Restprobleme.

Gemäß polnischen Presseangaben wird fast die Hälfte der 3500 fleischverarbeitenden Betriebe des Landes nach dem 1. Mai 2004 wegen der hohen EU-Standards schließen müssen. Doch auch das dürfte noch geschönt sein. Der Leiter der Warschauer Veterinärbehörde behauptet, daß nur drei Prozent aller fleischverarbeitenden Betriebe den Anforderungen entsprechen.

Kaum besser sieht es in der Milchwirtschaft aus: Von 400 Molkereien erfüllen ganze zwölf Prozent die Brüsseler Vorgaben. Wenn nun aber ein erheblicher Teil der Milchabnehmer verschwindet, verlieren vor allem die kleineren Bauern den einzigen Partner, bei dem sie noch Geld verdienen können.

In anderen Ländern, etwa der Slowakei, sieht es nicht besser aus. Von insgesamt 171 Unternehmen der Nahrungsindustrie erfüllen dort nur einige Hersteller von Spirituosen die EU-Standards.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer kritischer Bereiche, etwa die von der Kommission in bezug auf Polen gerügte unzureichende Bekämpfung der Korruption, die mangelhafte Grenzüberwachung oder die fehlende Solidität der öffentlichen Haushalte (Polen ist mit einem Hauhaltsdefizit von fünf Prozent sogar noch unsolider als die Bundesrepublik und Frankreich). Selbst Estland, das im Brüsseler "Monitoring-Bericht" - ebenso wie Slowenien - besonders gut abschneidet, wird aufgefordert, seine Lebensmittelstandards zu verbessern. Das gleichfalls positiv beurteilte Lettland soll noch an seinen Steuer- und Zollvorschriften arbeiten. Und die litauische Regierung wird ermahnt, die Fischerei besser zu kontrollieren.

Die vielen Mängel haben aber möglicherweise auch etwas Gutes: Sie werden die Tendenz verstärken, die Europäische Union in erster Linie als Freihandelszone zu verstehen. Die Brüsseler Vorstellung einer weitreichenden gemeinsamen Ausübung von Souveränität ist den ostmitteleuropäischen Staaten sowieso nicht geheuer.

Schönrednerei statt solider Zukunftsplanung

Deutschlands Botschaft in Prag:

Der deutsche Staat ist im Vergleich zu seinen östlichen Nachbarn viel eher bereit, Souveränitätsrechte an die EU abzutreten

 
     
     
 
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