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Chancen Von Peter Fischer

 
     
 
Ob das Planspiel, Rußland als Übungsgelände für sozialistische Experimente zu nutzen, wie gelegentlich in einschlägigen Kreisen behauptet wird, stimmig ist, läßt sich allenfalls indirekt belegen - nichts war blutiger als die Ära von 1917 bis 1991. Gleichwohl ist Rußland seitdem unter den Räubern geblieben, oder wie Herbert Kremp in der "Welt am Sonntag" zutreffend schreibt: "Die vom letzten Roten Zaren noch einmal kräftig vermehrte Feudal-Kaste der Funktionäre hat sich in eine kapitalistische Raubritterschaft verwandelt". Daß sich diese Raubritterschar um die Belange des russischen Volk
es kümmert, scheint ebenso unwahrscheinlich, wie von Kohls Duz-Freund Jelzin je auch nur ein einziges konstruktives Element zu erhoffen, denn die Chance, nach dem bolschewistischen Blutbad zu einer beherzten Umgestaltung zu gelangen, ist vertan, mutmaßlich nie gewollt gewesen. Das neueste von Jelzin geduldete Schurkenstück, den Schulmeistern von Woromesch das längst überfällige Gehalt in Form von Grabsteinen auszuzahlen, nachdem man zuvor mit Henkeltassen und Geschirrspültüchern löhnte, gehört hierzu. Man muß lange in der Geschichte stöbern, um analoge Zynismen aufzuspüren; man findet sie allenfalls bei den Amerikanern, die den ahnungslosen Rothäuten mit Krankheitskeimen infizierte Decken schenkten, an denen diese jämmerlich krepierten, um schließlich wieder bei jenen verdorbenen Russen zu landen, die in den letzten Jahren des Sowjetregimes in Ostdeutschland deutsche Grabsteine für den Eigenbedarf abschleifen ließen.

Wie im Kleinen, so auch im Gro-
ßen: Rußland steht mit min-
destens 170 Milliarden Dollar in der Kreide, nahezu 75 Prozent der Geschäfte vollziehen sich in einer Art von Naturalwirtschaft, was bedeutet, daß keine Steuern gezahlt werden. Bis Ende 1998 muß Rußland 50 Mrd. Dollar an Gehältern, Löhnen und an Schuldtiteln aufbringen, was die soeben vom IWF aufgebrachten 35 Mrd. Dollar zu einer Liebesgabe schrumpfen lassen, die sie freilich nicht ist.

Gleichwohl läßt man die russische Raubritterschaft gewähren, da sie noch am ehesten für die erwünschten wirtschaftlichen Außenkontakte einstehen: Der Erdgas- und Erdöl-Komplex wird nach dem kalkulierten Rücktritt des milliardenschweren Tschernomyrdin, der offenbar nur abseits steht, um den siechen Jelzin zu beerben, von W. Wjachirew unterhalten, der 35 Prozent der Anteile des Energiekonzerns an sich zu reißen vermochte. Sekundiert wiederum von Tschernomyrdins Sohn, der das "Pipeline-System" von Gas und Öl verwaltet. In Bonn schweigt man, sieht man davon ab, daß sich Kanzler Kohl gelegentlich seines Duz-Bruders Jelzin bedient, um dem Michel zu signalisieren, daß man auch in Richtung Moskau seine Querverbindungen unterhält. Ersatz für wirkliche Außenpolitik ist dies gewiß nicht, vielleicht weil man vermutet, daß der Bär waidwund ist und die Bestatter in Übersee ältere Anrechte aufweisen.

Doch eventuell täuscht man sich:
In Ostdeutschland stationiert Mos-
kau sein derzeit modernstes Luftabwehrsystem S-300 PS, was immerhin signalisiert, daß ein Strang des russischen Seins immer noch pulsiert. Im August wird das System erstmals unter Leitung von Generalmajor Fjodor Krisanow, Luftabwehrchef der Baltischen Flotte, im Rahmen eines Großmanövers zum Einsatz kommen. Nach Itar-Tass richtet sich das System gegen die gefährliche Logik des "baltischen Teufelskreises", was heißt, daß im Militärischen schon noch Kräfte bestehen, die registrieren, daß die Osterweiterung der Nato sich unter den Klängen des "Yankee-Doodle" bis vor die Tore Petersburgs vollziehen soll, wobei in altgewohnter Manier Polen und Baltikum unter Ausnutzung ihrer berechtigten Russenangst die Rolle eines Stoßtrupps zugeordnet bekommen, denen im Bedarfsfall freilich der Opfergang zur Rettung des größeren Restes zugemutet wird. (Z. Brzezinski, einer der Garanten der US-Vorherrschaft, hofiert neuerdings gewieft dem polnischen Geschmack mit dem Wort "regionale Großmacht").

Bonn aber bleibt abseits, auch wenn in den Jahren vor 1989 unter anderen Umständen schon der französische Publizist Michel Meyer für die Interessenlage seines Landes argwöhnte, man müsse sich auf die gedankliche Möglichkeit einlassen, daß in der "Übereinstimmung zwischen den politischen Wünschen der Deutschen und den ökonomischen Bestrebungen der Russen" ein Zusammenhang bestehe. Denkt man über die seit 1989 möglichen Chancen nach und erinnert sich des frühen Wortes von Franz Josef Strauß: "Die Wiederbelebung eines deutschen Nationalstaates im Herzen Europas kommt für uns nicht in Betracht" und vergleicht dies mit der anstehenden Wegnahme der D-Mark, dann wirkt diese Bonner Abseitsstellung freilich auch wieder schlüssig.

 

 
     
     
 
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