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Das Geheimnis der Materie

 
     
 
Manch einer wird sich noch des Naturkundeunterrichts in der Schule erinnern, als das Masse-Energiegesetz zur Sprache kam. Es besagt, daß Masse m und Energie E einander äquivalent sind: E = m · c2 (c= Lichtgeschwindigkeit). Ein Gramm Masse entspricht einer bestimmten Energiemenge. Der Vorgang ist grundsätzlich umkehrbar. Wenn also vorher nichts da war, kann aus Energie neue Materie entstehen. Solche Vorgänge spielen sich im kosmologischen Bereich ab. Man nimmt an, das Alter des Weltalls beträgt zwischen fünf bis zehn Milliarden
Jahre. Und was war vorher? Aus Nichts kann keine Materie entstehen. Also war vorher Energie da, die sich in Materie umgewandelt hat. Das Ende des Weltalls wird sein, wenn alle Materie zu Energie verstrahlt ist. Weil der Vorgang aber reversibel ist, kann sich umgekehrt die Energie wieder in Materie verwandeln. Die Materie war immer da, nur ihre Erscheinungsform ändert sich. Es hat daher wenig Sinn nach einem Anfang zu fragen, jedenfalls in naturwissenschaftlicher Hinsicht.

Die Sonne ist rund 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Trotz dieser enormen Entfernung wärmt das Zentralgestirn, ermöglicht erst Leben auf unserer Erde. Die Energie der Sonnenstrahlung stammt aus einem Massenverlust der Sonnenmaterie. Bei einer extrem hohen Temperatur des Sonneninnern laufen verschiedene Atomkernreaktionen spontan ab. Der wichtigste Prozeß ist die Verschmelzung (Kernfusion) von zwei Wasserstoffatomkernen zu einem Heliumatomkern. Die hierbei freiwerdende Energie, die wir als Licht und Wärmestrahlung empfangen, geht auf einen Massendefekt des Heliums zurück. Oder anders ausgedrückt: Der Helium-Atomkern ist um ein geringeres leichter, als die beiden ihn aufbauenden Wasserstoff-Atomkerne. Solange der Wasserstoff-Vorrat der Sonne reicht, haben wir nichts zu befürchten. Erst wenn er aufgebraucht sein wird, erlöscht das Leben im Sonnensystem.

Diese Kernfusion nachzuvollziehen, wäre eine ideale Energieart. Die Sonne macht es uns vor und Wasserstoff ist im Wasser genügend vorhanden. Im Kernforschungszentrum Karlsruhe sind entsprechende Versuche durchgeführt worden, wie auch in anderen Ländern, in USA (Los Alamos) oder in Japan. Als Brennstoff dienen die schweren Wasserstoff-Isotopen Deuterium und Tritium. Die Gemische müssen sehr rein vorliegen, geringe Mengen Sauerstoff oder Stickstoff stören den Fusionsverlauf. Bei der Kernfusion werden zwei Atomkerne gegen die abstoßende Kraft ihrer positiven Kernladungen so dicht zusammengebracht, daß sie zu einem Heliumkern verschmelzen. Die erforderliche große Geschwindigkeit erhalten die Teilchen bei sehr hohen Temperaturen von zirka 100 Millionen Grad Celsius, siehe Sonne. Bei dieser hohen Temperatur ist das Isotopengemisch in Atomkerne und Elektronen zerlegt, das total ionisierte Gas wird "Plasma" genannt.

Ein Plasma ist elektrisch leitend, es läßt sich durch elektrische und magnetische Felder beeinflussen. Das heiße Plasma zirkuliert in einem ringförmigen Magnetfeld, ohne daß es zu einer Berührung mit der Wand des Fusionsreaktors kommt, denn jedes Material würde bei der Extremtemperatur verdampfen. Die Forschung sucht nach geeigneten Verfahren, die einen kontrollierten Ablauf der Fusionsreaktion erlauben, um die freiwerdende Energie zu nutzen. Bei der Entstehung von einem Kilogramm Helium aus der Fusion von Deuterium und Tritium wird eine Energiemenge frei, die der Verbrennungswärme von 15000 Tonnen Steinkohle entspricht.

Seit einem halben Jahrhundert dauern die Versuche der Kernfusionsforscher. Mit weiteren Jahrzehnten rechnet man, bis es zu einem wirtschaftlich betriebenen Fusionskraftwerk kommt, das wäre die wichtigste Energieform der Zukunft. In Deutschland arbeiten seit vielen Jahren Spitzenwissenschaftler im Max-Planck-Institut für Plasmaforschung in Garching bei München und im Kernforschungszentrum Karlsruhe an der Lösung des Problems. Da die Bundesrepublik die enormen Finanzmittel zum Bau eines experimentellen Fusionsreaktors nicht aufbringen kann oder will - die gesamte Anlage des Kernforschungszentrums im Norden Karlsruhes, eine der größten Europas, soll zur grünen Wiese "rückgebaut" werden - beteiligt man sich wenigstens im Rahmen der EU an dem Projekt des europäischen Fusionsreaktors ITER (= Internationaler Thermonuklearer Testreaktor). Die Vorteile bestehen einmal in der leichteren Verfügbarkeit der Ausgangsstoffe und in der Abwesenheit langlebiger radioaktiver Produkte.

Im Juni 2005 einigten sich die EU, USA, Japan, China, Rußland und Südkorea, den Versuchsreaktor ITER für insgesamt 9,6 Milliarden Euro in Cadarache (Südfrankreich) zu bauen und 20 Jahre lang zu unterhalten. Die EU übernimmt 50 Prozent der Kosten (ein Fünftel davon entfallen auf Frankreich). Je 10 Prozent steuern die übrigen Teilnehmer bei. Mit der Entscheidung für Cadarache erhofft sich Paris die Entstehung von 4000 neuen Arbeitsplätzen. Noch wichtiger ist den Franzosen ihr Renommee, eine der führenden Nationen auf dem Gebiet der Nukleartechnologie zu sein. Aus 19 Atomkraftwerken mit insgesamt 58 Kernreaktoren deckt Frankreich zur Zeit mehr als ein Drittel seines Energiebedarfs.

Um von der technischen Entwicklung auf diesem Sektor nicht ganz abgeschnitten zu werden, hat der Siemenskonzern seine Abteilung für Kerntechnologie in ein deutsch-französisches Gemeinschaftsunternehmen "Framatome" eingebracht. Gemeinsam soll der "Europäische Druckwasserreaktor" ERP entwickelt werden, ein Kernkraftwerk der dritten Generation. In Finnland entsteht das erste KKW in Europa seit Tschernobyl, das schlüsselfertig von Framatome und Siemens erstellt wird. Drei Milliarden Euro läßt sich die finnische Regierung den Bau des größten und modernsten Atomreaktors ERP der Welt kosten.

Deutsche Kerntechniker sind an der Belieferung von 17 deutschen KKW mit Brennstäben aus angereichertem Uran beteiligt, ebenso an Modernisierungs- und Nachrüstungsarbeiten. Mit der Nachrüstung könnte die Laufzeit der Atomreaktoren auf insgesamt 60 Jahre verlängert werden, dazu müßte aber der Vertrag zwischen Regierung und Atomwirtschaft abgeändert werden.

Prof. Dr. Rüdiger Ruhnau, Leiter der Forschungsstelle Umwelt und Chemie-Industrie, FUCI.
 
     
     
 
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