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Das Reich wird seiner Isolation gewahr

 
     
 
Nachdem es zwischen den beiden westeuropäischen Großmächten im Jahre 1904 zur Entente cordiale (herzliches Einvernehmen) gekommen war, war es das Ziel der deutschen Außenpolitik, diese Vorstufe eines Bündnisses aufzubrechen. Folgende Taktik sollte dabei angewandt werden: (1) Frankreich wird von Deutschland stark unter Druck gesetzt. (2) Die Franzosen werden von den Briten im Stich gelassen und erkennen, daß die Entente cordiale im Bedarfsfall wertlos ist. (3) Die derart Desillusionierten ziehen die Konsequenz, daß sie nun versuchen, ihre Ziele statt gegen die mit den Deutschen zu verfolgen, und es bildet sich zwischen den Feinden von 1870/71 unter Einschluß der Russen der vom Deutschen Kaiser ersehnte europäische Kontinentalbund.

Für die Anwendung dieser Taktik schien sich die Marokkofrage anzubieten. In der Madrider Konvention hatte sich die international
e Staatengemeinschaft auf ein souveränes außenhandelspolitisch liberales Marokko geeinigt. Obwohl Frankreich wie die anderen Großmächte diese Konvention selber mit beschlossen hatte, war es nicht bereit, sich daran zu halten. Es versuchte eine sogenannte friedliche Durchdringung des Scherifenreiches. Ziel war eine französische Kolonie, in der französische Unternehmen ganz in der Tradition des französischen Protektionismus gegenüber nichtfranzösischen privilegiert werden.

Wenn das Deutsche Reich der Französischen Republik hier entgegentrat, war es im Recht. Die internationale Konstellation schien günstig. Ebenso wie das Deutsche Reich waren auch die Vereinigten Staaten als starke Industrienation an einer sogenannten Politik der offenen Tür, sprich einer Gleichberechtigung der Wirtschaftsnationen statt einer Bevorzugung Frankreichs, interessiert. Und von Seiten Rußlands war keine nennenswerte Unterstützung Frankreichs zu befürchten, da das Zarenreich aufgrund des erfolglosen Krieges gegen Japan von 1904/05 und der dadurch ausgelösten Revolution von 1905 geschwächt und genügend mit sich selbst beschäftigt war.

In eben jenem Jahr 1905 setzte Wilhelm II. ein klares Zeichen. Er stattete dem Sultan in Tanger einen offiziellen Staatsbesuch mit allen protokollarischen Ehren ab und sprach sich dort für "ein freies, souveränes Marokko" und einen "Handel auf dem Boden der Gleichberechtigung" aus.

Die französische Regierung wünschte in dieser Situation einen leisen bilateralen Interessenausgleich mit seinem gegen seine Marokkopolitik und seinen Bruch der Madrider Konvention so unmißverständlich protestierenden östlichen Nachbarn, aber die deutschen Gesprächspartner bestanden auf einer internationalen Konferenz, um den Franzosen deren vermeintliche internationale Isolation vor Augen zu führen.

Da sich die Deutschen einer leisen Lösung versagt hatten, begann entsprechend ihrem Wunsche am 16. Januar 1906 in der südspanischen Küstenstadt Algeciras eine internationale Marokkokonferenz, an der die Signatarmächte der Madrider Konvention von 1880, also neben den klassischen fünf Großmächten Frankreich, Deutsches Reich (Preußen), Großbritannien, Rußland und Österreich-Ungarn auch die neue europäische Großmacht Italien, die jenseits des Atlantiks entstehende Großmacht USA, der Gastgeber Spanien, das am meisten betroffene Marokko sowie Portugal, Belgien, die Niederlande und Schweden teilnahmen.

Als die Konferenz vor 100 Jahren, am 7. April 1906 endete, war die deutsche Seite gründlich desillusioniert. Der deutsche Versuch, Frankreich dessen vermeintliche Isolation vor Augen zu führen, endete mit der bitteren Erkenntnis, selber weitgehend isoliert zu sein. Abgesehen vom machtlosen Marokko stand nur Österreich-Ungarn konsequent auf der Seite des Deutschen Reiches, zweifellos ein Grund für die sich bis zum Kriegsausbruch 1914 bildende sogenannte Nibelungentreue zwischen den beiden Kaiserreichen. Bezeichnend ist hierfür eine Depesche des Deutschen Kaisers an den österreich-ungarischen Außenminister, in der Wilhelm II. eine Woche nach dem Konferenzende schreibt: "Sie haben sich als brillanter Sekundant auf der Mensur erwiesen und können gleichen Dienstes im gleichen Fall auch von mir gewiß sein."

Für die weitgehende Isolierung Deutschlands auf der Konferenz seien hier zwei Gründe genannt. Zum einen hatten die Franzosen bereits vor der Konferenz - so wie sie es auch mit Deutschland versucht hatten - bei einem Großteil der auf der Konferenz vertretenen Staaten über Konzessionen in anderen Fragen Akzeptanz für ihre Marokkopolitik hergestellt. Zum anderen zeigten sich die Briten bereit, zur Verteidigung der britisch-französischen Entente cordiale Frankreich notfalls "rückhaltlos", wie es König Edward VII. formulierte, zu unterstützen. Statt zu der deutscherseits erhofften Lockerung der Entente hatte der 1905 auf der Insel erfolgte Regierungswechsel von den Konservativen zu den Liberalen zu deren Festigung beigetragen.

Aus der Konferenz von Algeciras kamen Frankreich, das Deutsche Reich, Großbritannien und Österreich-Ungarn somit mit den Koalitionen heraus, mit denen sie knapp ein Jahrzehnt später in den Ersten Weltkrieg hineingingen. Und so wie aus dem Weltkrieg ging Deutschland auch aus der Konferenz als Verlierer hervor. Formal wurde dem Deutschen Reich in Algeciras Recht gegeben, zu eindeutig war einfach die auf der Konferenz von Madrid 1880 geschaffene Rechtslage. Marokkos Integrität und die Politik der offenen Tür wurden formal bestätigt. Inhaltlich jedoch wurde in der Algeciras-Akte der "friedlichen Durchdringung" Marokkos durch Frankreich kein wirksamer Riegel vorgeschoben. Französische Offiziere sollten zusammen mit spanischen die marokkanische Polizei führen; die Bank von Marokko sollte von je einem französischen, englischen, spanischen und deutschen Zensor überwacht werden; während die übrigen elf Signatarstaaten der Algeciras-Akte je ein Fünfzehntel des Grundkapitals der Staatsbank erhielten, bekam Frankreich ein dreimal so großes Stück des Kuchens zugebilligt. Angesichts des Verlaufs und des Ergebnisses der Konferenz von Algeciras war der erfolgreiche Abschluß der "friedlichen Durchdringung" Marokkos durch Frankreich nur noch eine Frage der Zeit. 1912 war es soweit, Marokko wurde französisches Protektorat.
 
     
     
 
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