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Der Tag als die Vögel schwiegen

 
     
 
Meine letzten Tage in der ostdeutschen Heimat erlebte ich in den Kellergewölben des Landratsamtes zu Ebenrode. - Im April 1944, kaum vierzehnjährig, begann ich eine Lehre im Verwaltungsdienst. Als der Oktober im letzten Drittel stand, war sie schon zu Ende, die Lehre. Es gab anderes zu tun: Wichtige Botengänge, Aufräumungs- und Verladearbeiten von Waren zerstörter Geschäfte, bestimmten den Tagesablauf. In einer abendlichen Kellerromantik ließen Klänge wie: „Ein junges Volk steht auf …“ einen pubertierenden Jugnen beim fahlen Schein einer Glühlampe eintauchen in die verhängnisvolle Illusion, an der Seite der Väter zu stehen im Ringen um die heimatliche Scholle.

Zum Abschied wurde ich mit einem Stück Papier ausgestattet, welches mich als Lehrling eines in Auflösung begriffenen Amtes auswies und alle reichsdeutschen Dienststellen aufforderte, mir weiterzuhelfen. Bevor ich den letzten Zug ins Unbekannte bestieg, zog es mich in mein Dorf. Ich wollte es noch einmal sehen. Eigentlich wollte ich dableiben.

Der Appell mit den Fluchtanordnungen hatte in frühester Morgenstunde stattgefunden. Für 16 Uhr war die Abfahrt des Zuges vorgesehen. Mit dem Fahrrad konnte ich in einer Stunde zu Hause sein. An der Badeanstalt
standen „Kettenhunde“. Eine Metallplatte mit der Aufschrift „Feldgendarmerie“, die sie auf der Brust trugen, machte sie erkenntlich. Das sah wichtig aus, war auch beängstigend. Sie kontrollierten Militärfahrzeuge. Mich ließen sie unbehelligt passieren.

Da vorn war schon der Feldweg mit den Kugelweiden. Den würde ich einschlagen, um von der Hauptstraße abzuweichen. Fest trat ich in die Pedale, fuhr über „mein“ weites Land; um mich Stoppelfelder. Wo sonst um diese Jahreszeit der Landsmann den Acker für die neue Saat vorbereitet, war lähmende Ruhe. Die alte Feld-Ulme hatte ihr Blätterdach abgelegt. Kahl, fast mahnend, stand sie da, besetzt von schwarzen Raben, die vergebens auf den herbstlichen Umbruch der Ackerkrume warteten.

Mein Dorf mit den hochgiebligen, roten Backsteinhäusern, es war noch bewohnt; nur wenige hatten es verlassen. Und es war doch so leer. Ich besuchte Verwandte, Nachbarn: „Kann ich bei euch bleiben? Ich will arbeiten, helfen, ich kann …“, fragte ich. „Junge“, hieß es, „fahr du mit deinem Zug, so weit du nur kannst. Uns wird es so gut nicht gehen, denn wir haben keinen Zug. Einen Leiterwagen haben wir und wie viele Pferde uns die Wehrmacht läßt, ist ungewiß.“

Unsere Wohnung, die Tür war unverschlossen. Ich ging nicht hinein, setzte mich auf die Treppe, lehnte meinen Kopf an das Geländer. So hatte ich schon einmal hier gesessen, als die Nachricht von Vaters Tod an der Ostfront gekommen war. Verlassen kam ich mir vor. Um mich war Stille. Die Vögel schwiegen.

Ein müder, trauriger Junge fuhr mit dem Fahrrad ein letztes Mal über „sein“ Land …

Auf dem Ebenroder Bahnhof nahm ich Quartier in einem der Viehwaggons des bereitstehenden Zuges, der tagelang mein Zuhause sein sollte. Ich bettete meine müden Glieder auf Stroh, dachte an „mein“ Land, das sich im dumpfen Rattern des mühsam fahrenden Zuges mehr und mehr von mir entfernte und unterging in dem höllischen Abgrund eines sinnlosen Krieges.

Unversehrt erreichte ich das Vogtland und meine Familie. Ich war angekommen. In der neuen Heimat? Das Vogtland war schön: Berge, Täler, Wälder; bot Schutz vor dem Krieg. Es wurde nicht „mein“ neues Land. Später Potsdam und Berlin: ich fand Arbeit, Freunde, Liebe, Wissen. Ich wohne hier, bin hier zu Hause, kann ich sagen, Heimat nicht! Heimat ist dort, wo mein erster Herzschlag Wurzeln trieb, in der unendlichen Weite wogender Kornfelder.

Flieg, weiße Taube über „mein“ Land. Bring zurück die goldene Ähre und den roten Feldmohn. Mach fruchtbar die geschlagene Erde.

 
     
     
 
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