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Der Traum von Toleranz und Freundschaft

 
     
 
Der Wald schien menschenleer, kaum ein Laut war zu hören. Die beiden schlichen sich näher heran an die Lichtung, krochen durch das Gestrüpp von Himbeer- und Brombeersträuchern. Sie schienen die Dornen nicht zu spüren, die an ihren Kleidern zerrten. Immer wieder schauten sie sich siegessicher an und grinsten verschmitzt. Sie würden den Feind schon aufspüren! Da, plötzlich zerriß der warnende Schrei eines Hähers die Luft. Die beiden Kundschafter blickten verwirrt um sich: War dieser Schrei von einem echten Vogel oder sollte der Feind sie entdeckt haben und sein Kundschafter die anderen warnen? Wenn es nur nicht so warm wäre und wenn diese verdammte Tusche nicht so jucken würde, mit der sie die Kriegsbemalung auf ihre Gesichter gebracht hatten! Pst, Leuchtender Tag und Rote Blume
duckten sich tiefer in das Gras, das hier unter den Tannen noch taufeucht war. Da war doch was. Männerstimmen wurden laut, und es knackte verdächtig im Unterholz. Die beiden sahen sich mit großen Augen an. Jetzt wurde es brenzlig, mit solch einem "Feind" hatten sie nicht gerechnet. Nichts wie weg. Der Förster hatte es gar nicht gern, wenn man in der Schonung spielte.

Leuchtender Tag und Rote Blume waren derart verwirrt, daß sie sogar ihre Fahrräder im Wald zurückließen. Die mußten sie dann später holen, erst einmal wollten sie vor allen Dingen diese verflixte Tusche abwaschen, um das Jucken endlich loszuwerden. Ein Abenteuer aber war es allemal, das die beiden Mädchen erlebt hatten. Sie sollten sich noch viele Jahrzehnte später schmunzelnd daran erinnern ...

Mit wahrer Begeisterung spielten die Kinder Anfang in den 60er und 70er Jahren Cowboy und Indianer, und zum Weihnachtsfest gab es nichts Schöneres, als einen neuen Band von Karl May unter dem Tannenbaum zu finden. Meist waren es die preisgünstigeren Taschenbücher, die edleren, gebundenen Exemplare fanden einen Ehrenplatz im Bücherregal. "Durch die Wüste", "Durchs wilde Kurdistan", "Der blaurote Methusalem", "Der Schut" - allein die Titel verhießen Abenteuer pur. Und dann natürlich Winnetou und Old Shatterhand, sie eroberten die Herzen von Jungen und Mädchen im Sturm. Als dann die Karl-May-Filme den Charakteren auch ein greifbares Bild gaben, entwickelte sich die Liebe zu den Helden geradezu bis zur Besessenheit.

Die Jugend-Zeitschrift "Bravo" brachte einen sogenannten Starschnitt: jede Woche einen Teil eines großformatigen Fotos von Winnetou, den man ausschneiden mußte, um ihn schließlich zu einem lebensgroßen Winnetou zusammenzufügen. Dieser zierte dann die Wand so manch eines Kinderzimmers und wirkte so echt, daß erwachsene

Besucher zunächst zusammenzuck-ten und sich in einen Hinterhalt gelockt fühlten. Man sammelte Starpostkarten mit Motiven aus den Filmen. Es entbrannte eine Sammel-leidenschaft, die selbst gute Freundschaften fast zerstören sollte, war man doch gekränkt, wenn die Freundin eine andere, bessere Postkarte ergattern konnte als man selbst. Man wollte seinen Helden nah sein, haßte Ribanna, die Winnetou gefährlich nah kam, war Nscho-tschi, Winnetous Schwester, auch nicht sonderlich gut gesonnen, hatte doch Old Shatterhand ein Auge auf sie geworfen. Und Rollins, den grausamen Mörder Winnetous, verabscheute man aus tiefstem Herzen, wie auch den Bösewicht Santer, der schließlich Nscho-tschi auf dem Gewissen hatte.

Seltsam: Alle diese Gefühle werden nach so vielen Jahren wieder lebendig. Das mag daran liegen, daß man in zwei Büchern geblättert hat, die aus dem Bamberger Karl-May-Verlag eintrafen: Ich war Winnetous Schwester von Marie Versini (352 Seiten mit über 150 farbigen und schwarzweißen Abbildungen, gebunden, 29,90 Euro) und Karl-May-Stars, zusammengestellt und vorgestellt von Michael Petzel (320 Seiten mit 150 farbigen und sw Abb., gebunden, 29,90 Euro). Nicht nur Karl-May-Fans kommen da auf ihre Kosten, auch Filmnostalgikern schlägt das Herz höher. Alles was Rang und Namen hat und mit Karl May, den Büchern, den Filmen und den Festspielen in Bad Segeberg oder Elspe in Verbindung gebracht werden kann, findet sich in diesem Buch wieder, angefangen bei Mario Adorf, der den Bösewicht Santer 1963 in "Winnetou I" spielte, über Götz George, der gleich in mehreren Filmen mitwirkte, über Heinz Erhardt, Walter Giller, Uschi Glas, Stuart Granger bis hin zu Klaus Kinski, Herbert Lom und Marianne Hoppe. Aber auch Produzenten wie Arthur (Atze) Brauner und Horst Wendlandt, Regisseuren wie Robert Siodmak oder Günter Gräwert (geboren 1930 in Memel) und dem Komponisten und Schöpfer des Karl-May-Sounds Martin Böttcher begegnet man in diesem Buch, das mit seinen Fotos und Kurzbiographien ein Who is Who des deutschen Films abgibt. Schließlich trifft man auch auf so unterschiedliche Protagonisten wie die Stettinerin Marie Louise Droop, die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erste Karl-May-Stummfilme produzierte, und Michael Bully Herbig, den Schauspieler und Regisseur, der mit seiner Parodie "Der Schuh des Manitu" 2001 zwar die Kinokassen füllte, aber auch die Karl-May-Fan-Gemeinde teilte. Nicht jeder fand seine schräge Version des Winnetou lustig.

Unterhaltsam und voller Anekdoten sind die Erinnerungen der Schauspielerin Marie Versini, die 1957 immerhin das jüngste Mitglied der Comédie Francaise in Paris war. Launig erzählt sie von ihrem ersten deutschen Film "Das schwarz-weiß-rote Himmelbett", den sie 1962 mit Thomas Fritsch drehte, erzählt von Kollegen wie Lex Barker, dem 1973 leider viel zu früh verstorbenen Darsteller von Old Shatterhand, von Stars wie Paul Newman, Curd Jürgens oder Eddie Constantine und natürlich von Pierre Brice, ihrem Filmbruder und guten Freund.

Beide Darsteller haben in ihrer Karriere den Figuren von Karl May viel zu verdanken. Doch ist nicht zu vergessen, daß es für beide auch ein Leben neben Nscho-tschi und Winnetou gegeben hat und heute noch gibt. Auch wenn Pierre Brice seine Biographie Winnetou und ich (Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach, 462 Seiten, 16 Seiten Tafelteil mit 26 Abb. und 21 sw Abb. im Textteil, gebunden mit Schutzumschlag, 22,90 Euro) nennt, so macht doch die Unterzeile "Mein wahres Leben" deutlich, daß es mehr gibt im Leben des Bretonen als Indianerspiele. Brice, der eigentlich Pierre Louis le Bris heißt, erzählt anschaulich von Kindheit und Jugend in Brest und Rennes, seinem Engagement für die Résistance, seinen Erlebnissen im Indochina-Krieg, aber auch von seinen Begegnungen mit faszinierenden Frauen, seiner späten Liebe zu seiner deutschen Frau Hella und seinem sozialen Einsatz in Krisengebieten wie dem Kosovo und Kambodscha. "Ich habe Winnetou viel zu verdanken, ganz abgesehen davon, daß ich vorher ein Schauspieler war, den man nur in Italien und ein wenig in Spanien und Frankreich kannte. Nun bin ich zu einem Idol der deutschen Jugend geworden. Aber für mich steckt dahinter noch viel mehr. Winnetous Eigenschaften sind mir zu Leitbildern geworden. Sie bestimmen meine persönliche Haltung genauso wie mein künstlerisches Wesen", bekennt Brice. Und: "Ich war das Medium eines Traums für mehrere Generationen. Eines Traums von Freundschaft, Respekt anderen Menschen und ihren Überzeugungen gegenüber, eines Traums von Toleranz."

Leuchtender Tag und Rote Blume sind längst aus ihren Träumen aufgewacht, doch wenn die Musik von Martin Böttcher mit ihrem so typischen "Karl-May-Sound" aus dem Radio erklingt, dann sind sie wieder da, die Abenteuer mit Winnetou und Old Shatterhand. - Hugh, ich habe gesprochen.

Unvergessen: Nscho-tschi (Marie Versini) und Winnetou (Pierre Brice)
 
     
     
 
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