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Der Vorzug des Zeitlosen

 
     
 
Das ostdeutsche Gutshaus ist aufgrund seiner für die europäische Kunst- und Baugeschichte wenig spektakulären, schlichten Form, die nicht hinauswirkte in die Welt, keine großen Baumeister hervorbrachte, keine neue Idee, kaum Thema der Baugeschichtsforschung gewesen. Wo Carl von Lorck, der einzige bisherige Erforscher des ostdeutschen Gutshauses, beschreibend durch die Jahrhunderte Bauten und Entwicklung auflistet, erschließt sich dem (Bau-)Historiker wenig Neues, zumindest nichts auch nur im Ansatz zu baugeschichtlich reicheren Ländern Vergleichbares. Was in Ostdeutschland – immer betrachtet nach der Ordenszeit, die ja eine bedeutende Architekt
ur hervorbrachte – schon Höhepunkte sind, finden wir in anderen Gegenden in üppigeren und zahlreicheren Beispielen, man vergleiche allein die Barockschlösser in Schlesien mit jenen Ostdeutschlands.

So werden jene Häuser vielmehr Gegenstand hermeneutischen Nachdenkens über das Wesen der Bauherren und ihre Haltung zur Welt, vor allem da, wo diese Häuser in ihrer Gestalt tradiert vom 16. bzw. 17. Jahrhundert bis in das 20. Jahrhundert immer wieder neu und doch gleich erbaut wurden. Den hermeneutischen Ansatz finden wir bereits bei Lorck. Gerade da, wo Lorck in seinem Kapitel "Kulturgehalt" zur "Deutung" findet, wo Geschichte, Bau und Mensch sich vereinen und eine Idee, die Idee jener unauffälligen, geradezu belanglosen Schlichtheit hervortritt, tritt etwas Besonderes an uns heran, findet das ostdeutsche Gutshaus eine ideelle Bedeutung, die durchaus von den reicheren Formen anderer Gegenden besteht und, wie sich zeigen wird, allem modisch wandelnden Schmuck den Vorzug des Zeitlosen, stets "modernen", zumindest aber des leicht Erneuerbaren voraus hat.

Auch die Baugeschichte des Gutshauses im 20. Jahrhundert ist gemeinhin kein Thema der Forschung; mit wenigen Sätzen zusammengefaßt, weist man diesen Neubauten keine große Bedeutung zu, vor allem dann nicht, wenn sie Formen der Zeit "um 1800", das heißt einen traditionellen Formenkanon, verwenden. In dem wichtigsten Werk zur Gutshausarchitektur, das in den letzten Jahren erschienen ist, dem brandenburgischen Duncker-Projekt, kann Hellmut Lorenz im Grunde gar nichts mit diesen Werken anfangen, sieht eine Ratlosigkeit, eine Überholung der Bauaufgabe Gutshaus im 20. Jahrhundert. Daß dem zumindest in Ostdeutschland nicht so war, zeigt ein Blick auf die Gutshausneubauten im 20. Jahrhundert, einsetzend schon vor dem Ersten Weltkrieg. Dies mag uns bei einer kurzen Betrachtung des Gutshauses im 18. Jahrhundert zunächst unwichtig erscheinen, hätten sich nicht die Architekten des 20. Jahrhunderts dort ganz bewußt in die Tradition des 18. Jahrhunderts gestellt.

Ein großer Teil Ostdeutschlands wurde im Ersten Weltkrieg zerstört, darunter zahlreiche Gutshäuser und Gutshöfe. Der Wiederaufbau wurde als eine Chance verstanden, Ostdeutschland, das mit Ausnahme seiner Ordensarchitektur nicht reich an bedeutenden Bauwerken war, zu einem modernen, jedoch den traditionellen Formen des Landes gemäßen Gesamtkunstwerk wiedererstehen zu lassen. Dies ist in Ansätzen – teilweise weit darüber hinaus – gelungen. Im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau haben sich zahlreiche Architekten, Bauhistoriker, Denkmalpfleger und Bautheoretiker mit dem ostdeutschen Haus und auch dem Gutshaus befaßt. In den Jahren des Wiederaufbaus entstanden nun unzählige Häuser, die – nach der Formenvielfalt des 19. Jahrhunderts – einen landestypischen Formenkanon wieder aufnahmen. Es entstanden hier Neubauten, die uns auch etwas über das ostdeutsche Gutshaus vergangener Jahrhunderte verraten. Dieses muß ein Haus gewesen sein, welches in seiner Grundform die Möglichkeit barg, sich – vom 17. Jahrhundert an über dreihundert Jahre hinweg – immer neu dem entsprechenden Wandel des Wohnens anpassen zu können. Darüber hinaus – dies sei hier nur kurz angedeutet – gelingt in anderen Bauten eine schöpferische Fortführung aus der Tradition zu ganz eigenständigen Bauten, zum Beispiel in Ublick, Klein Lenkuk und Warnikeim.

Zwei Bautypen gehören zu den Grundformen der Wiederaufbauzeit: das eingeschossige Haus mit Krüppelwalm- oder Mansarddach und das zweigeschossige mit Walmdach, alle fast schmucklos, vielleicht mit Betonung des Mittelrisalits, der mittleren Achse.

Der erste Bautyp tritt nachweislich erstmals im 17. Jahrhundert auf, Carl von Lorck bezeichnet diese Gruppe seit etwa 1660 als "kleinere, schlichte klassische Bauform, ausgesprochen niedrig, breit gelagert mit einer deutlichen Hervorhebung der Mitte, oft mit Mittelgiebel, meist im Achsenschema 3+3+3". Beispiele waren Littschen, Kreis Marienwerder (1664), Willkühnen, Kreis Samland (vor 1667), Knauten, Kreis Pr. Eylau und Wundlacken, Kreis Samland. An Wundlacken erkennen wir besonders deutlich den Einfluß des niederländischen Palladianismus: es ist ein niedriger Bau mit Krüppelwalmdach, der in seiner Mitte von einem mächtigen dreiachsigen Risalit mit Fronton, kolossaler Pilastergliederung und Fruchtgehängen überhöht wird. Wenn auch die niederländischen Einflüsse bei Wundlacken und Willkühnen besonders deutlich hervortreten und damit das bei unzähligen Gutshäusern benutzte Motiv des dreiachsigen, zweigeschossigen Mittelrisalits mit Giebelanschluß seine niederländisch-palladianische Herkunft nicht verleugnen kann, stellt sich die Frage, inwieweit sich hier nicht auch einheimische Formen, nämlich die des mit dem Orden ins Land gekommenen oberdeutsch-fränkischen Haustyps des Vorlaubenhauses widerspiegeln, wofür Willkühnen, dessen Oberstube auf Pfeilern ruhte, ein gutes Beispiel wäre. Ein weiteres Beispiel war der steilere Giebel bei Neudeck, Kreis Rosenberg, dessen Form mehr an die landestypischen bäuerlichen Vorlaubenhäuser erinnerte, als an die Tempelfronten der Antike. Einen weiteren Hinweis auf etwaige Traditionen für den Dreifenstergiebel finden wir im Dreifensterhaus in den Städten, das die überwiegende Regel bildete und bis in die Ordenszeit zurückzuverfolgen ist.

Doch zunächst scheint die Form mit Oberstube und Fronten noch nicht Allgemeingut gewesen zu sein. Überhaupt dürfen wir uns das Gutshaus des 17. und auch frühen 18. Jahrhunderts nicht einfach genug vorstellen, viele Bauten werden noch Holzhäuser gewesen sein, die nicht auf uns gekommen sind. Bis zuletzt gab es noch Gutshäuser, die kaum Unterschiede zum größeren Bauern- oder Pfarrhaus aufwiesen. Das gegen Ende des 17. Jahrhunderts erbaute Gutshaus in Praßnicken, Kreis Samland, kann exemplarisch für viele Bauten jener Zeit stehen. Diese Form werden wir in den folgenden Jahrzehnten immer wieder antreffen, so in Quoossen, Kreis Bartenstein, Perkuiken, Kreis Wehlau, das um 1718 bis 1720 durch Friedrich Sebastian von der Trenck errichtet wurde, in Wundlacken, Kreis Samland, das 1746 neu entstand, und in Groß Kuglack, Kreis Wehlau, das allein durch seine reichere Fassadengestaltung etwas aus dem üblichen Rahmen hervortritt. Das eingeschossige Haus mit Krüppelwalmdach herrscht also im frühen 18. Jahrhundert noch vor, wie übrigens auch der benachbarte baltendeutsche Adel diese Hausform baute. Im insgesamt 18. Jahrhundert wird dieser Typ mit Krüppelwalmdach immer wieder verwendet, wenn auch seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dazu das barocke Mansarddach auftritt, so in Birjohlen/Birgen, Kreis Tilsit-Ragnit (1727–30), Amalienhof, Kreis Samland, Blumberg, Kreis Gumbinnen (um 1738), Neudeck, Abbarten, Kreis Bartenstein, Schettnienen, Kreis Heiligenbeil, (1765) und anderenorts. Die Betonung der Mitte erfolgte zumeist durch einen dreiachsigen Risalit, der um eine Oberstube mit Frontispiz oder Schleppdach erhöht wurde. ()

Wulf Wagner, Jahrgang 1969, ist Autor des Kataloges zur Ausstellung "Stationen einer Krönungsreise – Schlösser und Gutshäuser in Ostdeutschland" (143 Seiten, kart. mit zahlreichen s/w-Abb.), die noch bis zum 13. Oktober im Renaissanceschloß Demerthin/Prignitz, westlich der Stadt Kyritz, zu sehen ist. Erhältlich ist der Katalog über Herrn Wagner, Postfach 21001, 10514 Berlin und kostet 29,– Mark plus 2,50 Versandkosten.

 
     
     
 
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