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Die Hälfte kann nicht folgen

 
     
 
Kathrin F. arbeitet als Lehrerin in Kreuzberg. Vor einigen Jahren hat sie den Weg zum inneren Frieden gefunden und deshalb Chancen, in ihrem Beruf, den sie liebt, das Pensionsalter zu erreichen. Sie hat sich von den Ansprüchen ihrer Anfangszeit verabschiedet. Sie hatte, zum Beispiel, im Deutschunterricht Diktate nach konservativer Art schreiben lassen, wie sie es als Schülerin in der DDR erlebt hatte. Sie las einen Text langsam Satz für Satz vor, und die Schüler mußten ihn aufschreiben, ohne Duden
selbstverständlich. Die Hefte wurden dann eingesammelt, die Diktate kontrolliert und benotet. Es hagelte Fünfen. Sie fand das hart, aber wenigstens ehrlich. Die DDR sei schließlich daran gescheitert, weil man sich zuviel selbst belog. Unter Kollegen galt sie deswegen als "Stalinistin". Die freiheitliche Methode, die sie ihr empfahlen, war diese: Man läßt den Kindern den Duden, gibt ihnen die kontrollierten Texte zurück, geht gemeinsam die Fehler durch und diktiert denselben Text noch einmal. Erst dann vergibt man Zensuren. Heute weiß sie, daß ihre Kollegen es nur gut gemeint hatten. Heute "diktiert" Kathrin F. genauso wie ihre Kollegen, und hat ihre Ruhe, keine Ärger mehr. Sie hat sich daran gewöhnt, Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten, obwohl auf dem Stundenplan etwas anderes steht. Jetzt ist davon die Rede, an den Berliner Schulen die Diktate ganz abzuschaffen. Kathrin F. ist dafür. Sie hat eingesehen, daß sie vor allem Sozialarbeiterin ist. Sie ist damit beschäftigt, Anträge für Schülerbeihilfen auszufüllen, weil die Eltern dazu nicht in der Lage sind. Sie hat das neue Berufsbild akzeptiert und findet die Kinder "richtig lieb". Würde sie auch die eigenen Kinder hierherschicken? "Um Gottes Willen!" Man freut sich richtig, daß sie so mit sich im Reinen ist. Denn was wäre die Alternative? Ich habe sie kürzlich erlebt. Im Wartezimmer beim Arzt las ich einen Artikel über die Pisa-Studie. Ein Herr um die 60 musterte mich, bevor er seinen Frust abließ. Er war Lehrer. "Wissen Sie", sprudelte er los, "da ist nicht nur keine Bildung mehr, da fehlt es schon auf der Ebene der Phonetik an Artikulation. Die Kinder sagen: ,Dü Dür, dü Dür . Wissen Sie, was das heißt?" Ich schüttelte den Kopf. "Die Tür, soll das heißen, aber sie sagen: dü Dür, dü Dür." Er begann zu kichern. "Dü Dür." Dann wurde ich aufgerufen. Nur Zufallsbefunde? Nein, die Situation an den Berliner Schulen ist dramatisch: Ein 2003 veranstalteter Test unter Erstkläßlern hat ergeben, daß fast die Hälfte der Kinder förderungsbedürftig ist, das heißt, sie sind wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. 20 Prozent konnten nicht einmal einen Satz aus zwei Wörtern bilden. Naturgemäß sind es vor allem Ausländerkinder, aber auch zehn Prozent der Kinder aus deutschen Elternhäusern sind betroffen. Diese Kinder werden auch keine vernünftige Berufsausbildung absolvieren können. Gerade klagte die Berliner Industrie- und Handelskammer über das Fehlen einfacher Grundkenntnisse bei Lehrstellenbewerbern. Unter dem Titel "Deutsch plus" sollen die Sprachtests jetzt flächendeckend durchgeführt werden. Die Statistiken geben wenig Auskunft über die konkreten Umstände, denen die Kinder entstammen. Der Begriff "nichtdeutsch" vernebelt sie eher, als daß er sie erklärt. Kathrin F. schwärmt zum Beispiel von polnischen Kindern, die bienenfleißig seien, Sprachdefizite in Windeseile aufholten und bald zu den Klassenbesten gehörten. Ursächlich dafür sei das Interesse der Eltern, die eine Integration und den sozialen Aufstieg wünschten und sich ge- gebenenfalls auch um privaten Sprachunterricht kümmerten. Andere Ausländergruppen ließen dieses Interesse vermissen. Dieses Defizit soll wieder einmal der deutsche Staat ausgleichen. Die Hartz-IV-Gesetze geben ihm dazu die nötigen Instrumente in die Hand. Der Berliner Schulsenator Klaus Böger (SPD) hat jetzt vorgeschlagen, für die Sprachausbildung der Kinder arbeitslose Grundschullehrer in Ein-Euro-Jobs einzusetzen. In der Regel handelt es sich um Lehrer, die nach ihrem Referendariat keine Anstellung gefunden haben, weil der Staat kein Geld ausgibt für neue Pädagogen, obwohl es an Lehrern mangelt. Ein fürwahr motivierender Karrierestart. ",Dü Dür ! Wissen Sie, was das heißt?" - bereits jeder zweite Schüler an Berlins Grundschulen ist nichtdeutscher Herkunft: Kinder einer Klasse der Ganztagsschule des Kinderzentrums "Möwensee" in Berlin-Reinickendorf 
 
     
     
 
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