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Die Vergangenheit ist noch längst nicht vergangen

 
     
 
Der in den beiden letzten Folgen des alten Jahres erschienene Beitrag über den Reichssender Königsberg hat sehr viele Erinnerungen geweckt und demgemäß auch eine Fülle von Zuschriften gebracht, weit mehr als erwartet. Die meisten beziehen sich auf das Pausenzeichen – und das mit Recht. Hier war leider ein Übertragungsfehler entstanden, es fehlten nämlich fünf entscheidende Worte. Richtig lautet der Satz so: "Diese Ansage und die Pausenmelodie – zuerst der Anfang des Masurenliedes und später der des Haffliedes ,Wo det Haffes Welle trecken an den Strand‘ – werden manchem Ostdeutschland noch vertraut sein." So, nun hat es wieder seine Richtigkeit. Und um auch die letzten Irrtümer auszuräumen: Der Anfang des Masurenliedes lautet "Wild flutet der See …" Von seinem Verfasser Dewischeit ursprünglich als "Masuren-Wanderlied" geschrieben, wurde es so etwas wie eine National
-Hymne der Masuren. "Wo det Haffes Welle …" ist dagegen in Inse am Kurischen Haff entstanden. Dort dichtete der Präzentor Franz Leiber den Text des ursprünglich im pommerschen Platt geschriebenen "Ostseeliedes" der Schriftstellerin Martha Müller-Grählert zum "Hafflied" um. Leiber sang es zuerst mit seinen Schulkindern, dann sang es der Inser Männerchor und bald ganz Ostdeutschland. Vor allem, seit es zum Pausenzeichen des Reichssenders Königsberg geworden war. So, ich glaube, nun ist die Sache restlos geklärt.

Nun zu einigen Zuschriften, die zum Teil sehr interessante Mitteilungen enthalten. So teilte uns Frau Kassebaum, geb. Federowitz, aus Büchen mit, daß ihr Vater Franz Federowitz bei Kriegsende Toningenieur beim Reichssender Königsberg war. Sie weiß nach ihren Angaben genau, daß der nie wieder aufgetauchte Ü-Wagen und drei weitere Lastwagen doch über Pillau/Hela nach Flensburg gelangten und dort bei der Post abgegeben wurden. Falls hier keine Verwechslung mit den von dem Ehepaar Börschel in Flensburg abgegebenen Kisten vorliegt, ist das schon eine Mitteilung von dokumentarischem Wert, der weiter nachgegangen werden soll.

Sehr ausführlich nimmt Fritjof Berg, Kiel, zu dem Beitrag Stellung. (Übrigens: Herr Berg hat gleich richtig erkannt, daß bei der Pausezeichenpanne der Druckfehlerteufel – oder wie man das Übel im elektronischen Zeitalter auch nennen mag – Purzelbäume geschlagen hatte!) Fritjof Berg, der 1942 von Konrad Opitz in dessen Heinrich-Albert-Chor aufgenommen wurde, geht vor allem auf die Zusammenlegung dieses Chores mit der Rundfunkspielschar ein. Die Wortwahl "Wer mit wem" trifft heute noch empfindliche Nervenstränge. De facto und organisatorisch handelte es sich um eine kriegsbedingte Zusammenlegung oder Fusion, nicht aber um eine Integration des einen Chores in den anderen. Fritjof Berg: "Irgendwann im Frühjahr 1943 eröffnete Opitz eine Probe mit der Mitteilung, daß wir fortan gemeinsam mit der Rundfunkspielschar üben und singen würden, daß er die Leitung des vereinigten Chores übernommen habe und die Proben künftig nicht mehr im Musiksaal des Löbenichtschen Gymnasiums, sondern im Sender stattfinden würden. Da wir als Heinrich-Albert-Chor ja ein reiner Knabenchor waren, kam uns die Vorstellung, mit der Rundfunkspielschar und dann sogar mit Mädchen einen gemischten Chor zu bilden, zwar irgendwie wesensfremd vor, aber es gab kein Murren. In Proben, Aufnahmen, Konzerten waren wir bald wirklich nur noch ein Chor, so, als ob wir nie in einer anderen Form bestanden hätten." Fritjof Berg vermutet, daß die im Sender von Lieselotte Grube und/oder Max Naussed geschnittenen Aufnahmen, deren Originale oder Kopien immer zum Reichssender Berlin gingen, heute irgendwo in russischen Archiven liegen könnten. Seine Versuche, die Tondokumente aufzuspüren, blieben bisher leider ohne Erfolg (wie die Nachforschungen anderer Interessierter). Besonders schmerzvoll ist für Herrn Berg der Verlust der Aufzeichnung des Ostdeutschlandliedes, das "nie wieder und von niemandem so vollendet gesungen wurde wie von uns, die wir mit unseren jungen und reinen Stimmen nicht nur wußten, wovon wir sangen, sondern dies eben unter der begnadeten Gestaltung eines Konrad Opitz taten!" Eine überaus informative Chronik über die ursprünglich getrennten Chöre und die spätere Chorgemeinschaft ist unter der Federführung des ehemaligen Mitglieds des Heinrich-Albert-Chores, Helmut Grundtner, entstanden.

Zu der Geschichte der Rundfunkspielschar steuert auch Hans-Dieter Heyse, München, viel Wissenswertes bei. (Leider kann ich wie bei den meisten ausführlichen Zuschriften nur Auszüge bringen.) Herr Heyse gehörte zu der Gruppe der Angehörigen von Rundfunkspielschar und Heinrich-Albert-Chor, die am 19. November 1944 im Rahmen der Kinderlandverschickung nach Prag gebracht wurden. Im dortigen Funkhaus wurden sogar noch Aufnahmen für Königberg gemacht. Die von Lilo Grube betreute Gruppe gelangte noch rechtzeitig im Frühjahr 1945 in den Bayrischen Wald, wo kurz vor der Roten Armee die 3. US-Army erschien, so daß die Mädchen und Jungen nicht in die Hände der Rotarmisten fielen. Hans-Dieter Heyse hat sich später sehr um die ehemaligen Mitglieder gekümmert und in mühsamer Kleinarbeit etwa 200 Adressen ehemaliger Angehöriger der Chöre zusammengetragen, seither findet jedes Jahr ein Treffen statt, das Wolfgang Stintat organisiert. Und dann kam die Überraschung: Es meldete sich Lilo Grube persönlich. Die heute in Hannover Lebende hatte das von einer Bekannten erhalten und war nun sehr erstaunt, über die Rundfunkspielschar zu lesen. Das hat sie als letzte Kinder- und Jugendfunkleiterin des Reichssenders Königsberg sehr interessiert. Frau Grube hat auch nach dem Krieg die Verbindung zu den ehemaligen Senderangehörigen nicht abreißen lassen. So traf sie in Frankfurt Erich Börschel wieder, der zu ihrer Zeit auch Sätze zu Volks- und Kinderliedern geschrieben und aufgenommen hat, die im "Reichsprogramm" liefen.

Über Internet monierte Gerhard Schulz (leider ohne Adressenangabe) die Zahl von 400 Mitgliedern der Rundfunkspielschar – diese bezieht sich aber auf beide Chöre. Er weist ferner darauf hin, daß der erste künstlerische ORAG-Leiter Joseph Christean hieß – auch hier war leider ein Übertragungsfehler schuld – und daß Dr. Alfred Lau bereits 1935 Intendant des Reichssenders Königsberg wurde.

Interessant sind immer die persönlichen Verbindungen der Schreiberinnen und Schreiber zum Königsberger Rundfunk. So las Doris Motekat mit besonderem Interesse den Bericht, weil der Intendant, Generalmajor a. D. Siegfried Haenicke, ein Bruder ihres Vaters war. Durch ihn kam die Nichtostpreußin zum Studium nach Königsberg und lernte dort ihren Mann, den Literaturprofessor Helmut Motekat kennen, den sie 1944 heiratete. "Ihr Artikel über den Königsberger Rundfunk hat viele Kindheitserinnerungen in mir wach gerufen", schreibt Felicitas Dreyer. Ihr Vater war Telegrafeninspektor bei der Post und als solcher von Anfang an beim Ostmarken-Rundfunk dabei. Sie erinnert sich noch genau an den ersten Detektorapparat.

Marianne Imhofs Vater Otto Stork war im Orchester Konzertmeister, 1. Geiger. Er gehörte zu den ersten fünf Musikern, die in den 20er Jahren das Musikprogramm des Ostmarken-Rundfunks mitgestalteten. In seiner Freizeit ging er ganz in der Fotografie auf, seine Arbeiten erschienen in vielen ostdeutschen Büchern. So reiche ich gleich einen Wunsch von Frau Imhof weiter: Sie möchte so gerne die Bücher besitzen, in denen Otto Storks meisterhafte Fotos enthalten sind. Wer sich also von solchen Büchern oder Bildbänden trennen kann, wende sich bitte an Frau Imhof (Schorenstraße 2D in CH-3604 Thun, Schweiz).

Gerhard Kugland erinnert sich an ein Hörspiel, das ihn als Zwölfjährigen besonders gefesselt hatte, weil sein Ururgroßvater darin vorkam. Es spielte in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Eisenbahnstrecke Königsberg–Insterburg–Eydtkuhnen geplant wurde. Dorfschulze Kugland aus dem zwischen Groß Ottenhagen und Tapiau gelegenen Ort Zohpen rief alle Dorfbewohner zusammen, um mit ihnen die Gefahren der geplanten Eisenbahnstrecke zu diskutieren. Da gab es schon schwerwiegende Einwände wie die Todesgefahr für freilaufende Hühner, Gänse und Schweine und das Zerschneiden der Grundstücke. Weiterhin wurde sogar befürchtet, daß bei der Geschwindigkeit der Dampfrösser den Menschen das Gehirn aus dem Kopf gezogen wurde. Der Autor des Hörspiels blieb Herrn Kugland unbekannt – bis 1987, als er auf einem Heimattreffen den ehemaligen Lehrer Karnick aus Zohpen, nunmehr Professor an der PH in Flensburg, traf. Es stellte sich heraus, daß dieser das Hörspiel geschrieben hatte, und der Professor war nun selber sehr erstaunt, nach über 40 Jahren dem Nachfahren seiner Hauptfigur zu begegnen.

Ganz besonders gefreut habe ich mich über den Anruf von Irene Herr, vielmehr Irene Recklies – sie heiratete den eigentlichen Begründer der Rundfunkspielschar, Horst Recklies. Sie, eine erfolgreiche und sehr vielseitige Autorin, hatte auch die Texte zu den Liedern der "Kunterbunten Kinderstunde" geschrieben. Lange, lange haben wir miteinander Erinnerungen ausgetauscht, und die heiteren Zwischenfälle aus dem Funkalltag, die sie noch zu erzählen weiß, sind ein wahrer Anekdotenschatz. So, wie sie einmal den deutschen Liedtext für die damals sehr berühmte "chilenische Nachtigall", Rosita Serrano, geschrieben hatte, die diesen bei der Sendung absolut nicht artikulieren konnte.

Allen Einsendern, auch denjenigen, die hier nicht genannt wurden, danke ich sehr für ihr Interesse und die übermittelten Informationen. Mein Hauptdank gilt aber Heinz Krüger aus Bergedorf, der mir seine nach eigenem Erleben geschriebene Chronik über die Rundfunkspielschar zur Verfügung gestellt hatte. Auch er steht mit einer Reihe von "Ehemaligen" in Verbindung und besitzt sogar noch 30 Aufnahmen aus jener Zeit. Es stimmt schon: "Die Vergangenheit ist eben noch nicht einmal vergangen!"

 
     
     
 
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