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Die gute Stube wurde nur an Feiertagen genutzt

 
     
 
Den Ausdruck "Gute Stube" kennt heute wohl kaum noch een Rüpel, zumindest den jüngeren Klugschietern ist er nicht geläufig. Erbarmung! Wir hatten eine gute Stube im Bahnmeisterhaus in Mohrungen. Papa, Mama, mein Bruder und ich hausten in einer Wohnung, die dreieinhalb Zimmer, Küche und Toilette hatte. Eine Treppe höher befand sich noch eine Stube. Sie hatte eine schräge Wand, denn da war schon das Dach. Unser Opa, Mutters Vater, döste dort in seinem grauen Ohrenstuhl, schmokte aus seiner langstieligen Großvaterpfeife, schmökerte in altpreußischen Kalenderheften oder schnarchte ein bißchen, wenn ihm die Augenlider runterklappten. Zum Essen und zum Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen war er jedoch pünktlich in unserer Jungensstube. Nach Opas Tod zog mein Bruder in diese Kammer unterm Dach.

Das halbe Zimmer darunter war nicht nur für uns Jungs dagewesen. In ihm versammelte sich zum Essen die ganze Familie von montags bis sonntags. Mutter mußte täglich mit Terrine, Teller und Besteck von der Küche über ein Stückchen Korridor durch ihr und Vaters Schlafzimmer
zum Tisch ins Kinderzimmer. Ins Wohnzimmer hätte sie von ihrem Herd nur drei Schrittchen geradeaus über den Korridor zu machen brauchen. Aber nein, das Wohnzimmer war ja die "gute Stube", da wurde nur an Feiertagen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten getafelt. Einige Male geschah es, daß die "gute Stube" lediglich am Heiligen Abend zur Bescherung freigegeben wurde. Da schmückte Mutter hinter abgesperrter Tür den Tannenbaum und breitete auf dem Eßtisch ihre und Vaters Gaben aus.

Die "gute Stube" wurde aber manchmal auch außerhalb der Feiertage gebraucht, zum Beispiel, wenn sich Besuch oder Einquartierungen angesagt hatten, denn dann war es in dem kleinen Zimmer zu eng. Tante Emmy und Onkel Fritz aus Königsberg besuchten uns einmal, und nach einem Manöver war ein Gefreiter bei uns einen Abend und eine Nacht einquartiert. Anders wurde es während der starken Fröste und Schneefälle 1939 und 1940. Da kam Günthers Klassenkamerad Gotthilf aus Koschainen nicht mehr täglich mit dem Zug nach Mohrungen zur Johann-Gottfried-Herder-Schule, sondern bezog wochentags die Dachkammer. Frühstück, Mittag- und Abendessen gab s dann auf einmal wie selbstverständlich im Eßzimmer. Mit dem Krieg war dann endgültig Schluß mit dieser Tradition. Bombenbedrohte Berliner wurden bei unseren Eltern einquartiert, da haben sie sogar die Möbel gerückt.

Ende des Jahres 1944 haben unsere Eltern ihre Wohnung verlassen müssen. Mutter hatte ähnliches schon 1914 erlebt. Damals waren Oma und Opa mit ihr bis nach Elbing geflüchtet. Als sie dann nach Angerburg heimkehrten, hatten lediglich vier Hufeisen in Opas Schmiede und die dazugehörigen Hufnägel gefehlt. In der Wohnung hatte alles an seinem Platz gestanden, sogar Omas Wuschen unter dem Bett.

Ob Mutter 1945 gehofft hatte, ihre "gute Stube" wieder zu sehen, weiß ich nicht. Ich konnte sie nicht mehr danach fragen. Sie starb, bevor ich im Januar 1949 aus dem Ural an die Elbe kam.
 
     
     
 
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