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Die machen jetzt erst mal Mittag

 
     
 
Rechts voraus taucht Preußisch Eylau auf, bald wird die Grenze zwischen dem jetzt russischen Königsberger Gebiet und dem nun polnischen Südostpreußen erreicht sein. Da steht schon der erste Posten, der fast alle Autos nach rechts auf einen großen Platz leitet. Nur ganz wenige Pkws, die eine Sondergenehmigung vorweisen und ausnahmslos russische Nummernschilder haben, dürfen direkt zur Grenze durchfahren.

Kurz überschlagen stehen auf diesem "Vorspeicher" genannten Warteplatz weit über hundert Autos, gut drei Viertel davon sind polnische, der Rest russische und andere aus der ehemaligen Sowjetunion stammende. Mit uns zusammen sind insgesamt ganze drei deutsche Fahrzeuge auszumachen.

Aller Erfahrung mit russischen Beamte
n entsprechend, empfiehlt es sich für Deutsche, das Fahrzeug dort abzustellen, wo man jederzeit ungehindert wegfahren kann und ja nicht in einer Schlange eingekeilt werden kann.

Es gießt in Strömen, da wünscht man sich kaum etwas weniger, als ellenlang Schlange zu stehen. Am anderen Ende des "Vorspeichers" ist das Budchen mit dem zuständigen Beamten. Das Schalterfenster ist geschlossen, ein Pappschild mit der Aufschrift "pszerwa" – dem polnischen Wort für Pause – soll abwimmeln. Vorsichtiges Winken mit den roten deutschen Pässen hilft. Sofort geht das Fenster auf, die Pässe werden kurz eingesehen, dann werde ich zur Zahlstelle geschickt, wo die üblichen zehn Rubel für die Genehmigung, zur "Staatsgrenze" fahren zu dürfen, fällig sind.

Zurück zur ersten Abfertigungsbude geht wieder sofort das Fenster auf, und an allen wartenden Polen vorbei werde ich abgefertigt und mit dem obligatorischen Laufzettel versehen. Wir können zur Grenze fahren. Im Laufschritt zurück, ins Auto gesprungen und losgefahren, bevor es sich irgend ein russischer Beamter anders überlegt. Bis hierhin läuft alles ab wie immer, aber nur für Deutsche, für viele Russen und Litauer sowie für fast alle Polen heißt es warten.

Nach ein paar Kilometern ist die Grenze erreicht, mehr als hundert Meter quillt die Schlange aus dem Warteplatz heraus auf die Straße. Wieder laufe ich vor bis zu einer Abfertigungshütte am Straßenrand, wo es nach rechts auf den Warteplatz geht. Immer noch schüttet es wie aus Eimern vom Himmel. Ein kurzer Überblick läßt mich den zuständigen Mann herausfinden, vor einem Beamten in Zivil zücke ich unsere deutschen Pässe, die er kurz ansieht. Auf meine Frage, ob ich etwa auch auf den Warteplatz müsse, bedeutet er mir, so als ob es niemand sehen dürfe, vorzufahren.

Wieder im Sprint zurück zum Auto und schleunigst losfahren – wenn man Zeit sparen will, muß man gut zu Fuß sein an dieser Grenze. Bis kurz vor den Zaun, der die russischen Abfertigungsgebäude abschirmt, kann ich fahren, nur fünf Autos stehen vor mir. Erst hier spürt man das volle Chaos und die Spannung, die über dieser Grenze liegt.

Ab und an öffnet sich der Zaun, um den Gegenverkehr aus dem Kontrollpunkt herauszulassen, oder eines der an uns vorbeirauschenden, ausnahmslos russischen Autos mit einheimischer Nummer durchzulassen. Die Nerven liegen blank, es geht anderthalb Stunden lang nicht weiter, weil sich die Schlange hinter dem russischen Kontrollpunkt keinen Meter bewegt. Wo vorne nichts hinausgeht, kann hinten nichts hereingelassen werden. Entgegenkommende Lkws und Busse quälen sich auf der engen Straße um uns Pkw-Hindernisse herum, russische Polizisten brüllen, ich blaffe zurück, umstehende Polen drehen sich belustigt grienend ab.

Der Straßenzustand bis zum polnischen Staatsgebiet ist katastrophal, ein Belag nicht zu erkennen, wir alle stehen in einer Schlammwüste mit ausgedehnten Wasserlöchern, in denen vor allem manche der kleinen polnischen Fiats stecken zu bleiben drohen. Selbst große Wagen, wie einen polnischen VW Passat, kann man immer tiefer einsinken sehen. Als es weitergeht, schafft er es gerade noch, sich aus eigener Kraft herauszuwühlen.

Endlich fahren wir zum Kontrollpunkt, die Kontrollen sind wie immer etwas umständlich, detailverliebt, aber korrekt. Danach lohnt es sich kaum für die zwanzig Meter, die man fahren kann, den Motor anzustellen. Wieder bilden sich Schlangen, die schnell bis zum Kontrollpunkt reichen. Das Ausgangstor der russischen Abfertigung ist geschlossen.

Jenseits des Zauns steht Auto an Auto bis hin zu den polnischen Abfertigungsgebäuden. Solange dort nicht passiert, geht es auch hier nicht weiter. Immerhin hat sich das Wetter gebessert, man kann aussteigen. Die Stimmung unter den Wartenden ist nicht mehr so angespannt, das schlimmste wähnen alle hinter sich, man kommt schnell ins Gespräch.

Anna B., eine brünette, kurzhaarige Mitvierzigerin, erzählt vom Leben im südlichen Teil Ostdeutschlands. Czeslaw D., ein grauhaariger Endfünfziger, steigt aus einem in Polen Maluch genannten kleinen Fiat, kommt heran und beteiligt sich am Gespräch. Anna B. ist von Beruf Bauingenieurin und seit zwei Jahren arbeitslos. Ihr Mann sei Leiter eines Einkaufszentrums und verdiene umgerechnet 750 Mark im Monat, erzählt sie. Ob ich wohl wisse, daß ein Mann in dieser Position bei uns bald das Zehnfache verdiene, fragt sie. Sicher hätte ich ja bemerkt, daß in Polen viele Preise inzwischen Westniveau hätten, keinesfalls aber die Einkommen, pflichtet Czeslaw bei.

Beide haben Kinder, die in Allenstein studieren, da muß man mit einer monatlichen Zusatzbelastung von 1000 Zloty (etwa 500 Mark) rechnen, versichern sie. Er sei ja schon Rentner, erklärt Czeslaw, aber seine Frau arbeite nur für das Studium der beiden Töchter.

Man habe ihr schon Jobs für 500 Zloty im Monat angeboten, zu denen sie dann auch noch weit hätte fahren müssen, sagt Anna. Arbeit in ihrem Beruf gebe es vielleicht in Warschau, Masuren sei tot. Inzwischen ganz aufgetaut, gibt sie freimütig zu, Kleinschmugglerin zu sein, mindestens viermal im Monat fahre sie über die Grenze. Jeder muß "kombinieren", um durchzukommen, meint Czeslaw und bestätigt verschmitzt lächelnd, selbst auch nur zum Schmuggeln ins Königsberger Gebiet zu fahren. Auf die Frage, ob es sich denn lohne, antworteten beide etwas zurückhaltend, daß immer etwas übrig bleibe, wenn auch die Nebenkosten stark gestiegen seien.

Beide haben "nur" gut zwölf Stunden gewartet, nur, weil sie geschmiert haben. Nein, ohne Bestechung oder Bekanntschaft würde man Moos ansetzen, versichern beide, solche bedauernswerten Zeitgenossen würden bis zu vier Tagen hier stehen.

Die Höhe des Schmiergeldes ist variabel und hängt ganz von Laune und Bedarf der Empfänger ab, mal zahlt man 5 Dollar, mal 20 Dollar, manchmal auch zweimal. Mittlerweile gäbe es auf dem "Vorspeicher" sogar eine richtige Toilette, klagt Anna, hinter die Büsche dürfe man nicht mehr, und sogar für diesen "Saustall" werde Geld verlangt, mal zwei Rubel, mal einen Dollar, die Männer hätten es da ja viel leichter.

Keiner meiner Gesprächspartner regt sich auf, als ich offen zugebe, überhaupt nichts bezahlt zu haben. Gleichmütig meinen sie, wir Deutschen hätten ja mit dem ganzen Theater gar nichts zu tun, da sei es ganz normal, daß wir ohne das "Lapowka" genannte Schmiergeld und langes Warten durchkämen.

Auf meine Frage, ob sie das nicht als Diskriminierung empfänden, überlegen sie kurz. Eigentlich ja, meint Anna, die Schikanen träfen schließlich hauptsächlich Polen und natürlich "deutsche Polen", wie sie unsere Landsleute in der Heimat nennt, die ja auch mit polnischen Pässen und Autos reisen.

Etwas resignierend zuckt Czeslaw mit den Schultern, das sei ein Behördenkrieg, den sie, die kleinen Leute, nun ausbaden müßten. "Unsere sind da auch nicht viel besser," gibt ihm Anna in Richtung des polnischen Kontrollpunktes deutend recht. "Sie sehen doch, da geht ja auch nichts weiter. Die machen jetzt erst einmal eine Stunde Mittag."

Ihre Prognose sollte sich als richtig erweisen. Nachdem sich eine Stunde lang absolut nichts gerührt hat, geht es plötzlich relativ zügig und sogar freundlich weiter, binnen zwanzig Minuten sind wir und weitere fünfzehn Fahrzeuge abgefertigt.

 
     
     
 
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