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Ein Ring für Gisela

 
     
 
Die Tage und Nächte zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag - auch die Zwölfte genannt - galten seit alters her als eine Zeit voller Geheimnisse und voller wundersamer Geschehen. So mancher Deutung und Bedeutung unterstand in dieser Zeit, was man tat und unterließ. Besonders beachtete man deshalb, was während der Zwölften nicht getan werden sollte. Dazu gehörte neben manchem anderen das Wäschewaschen und Wäschehängen. Tat man es, so lief man Gefahr, heraufzubeschwören, daß es im Hause Leichen gab. Es sollte auch nichts gedreht werden, was das Spinnen und ähnliche Arbeiten in dieser Zeit ebenfalls ausschloß. Und das Wetter dieser zwölf Tage sollte in der Reihenfolge maßgebend sein für die zwölf Monate des folgenden Jahres.

Gemütsbewegend war auch, daß die Träume, die man in diesen Nächten hatte, in Erfüllung gehen sollten. Denn das konnte froh stimmen, aber eben auch belastend wirken für diejenigen, die diese Überlieferung ernst nahmen.

Manches geriet zwar im Laufe der Zeit in Zweifel, aber auch Heranwachsende übernahmen vielfach Bräuche und Gewohnheiten der Älteren. Willkommen war ihnen besonders das, was zum Silvesterabend gehörte und schicksalsverheißende Zukunftsaussichten zu offenbaren versprach. Da war einmal das Glücks-greifen. Dazu wurden meistens aus Wruken geschnitzte Figuren wie Hufeisen, Geld, Schlüssel, Ring, Himmelsleiter, Totenkopf und ähnliche lebensbezogene Symbole einzeln unter kleine Gefäße gepackt, und dann mußte einer der Teilnehmer aus der Runde danach greifen. Was in die jeweilige Hand gelangte, sollte für den Betreffenden seine Bedeutung haben.

Ein anderer, ähnlicher Brauch des Silvesterabends war das Bleigießen. Dafür hatten sich auch Jekstats statt des Glücksgreifens in einem Jahr entschieden, als ihre Töchter schon herangewachsen waren. Ursula, die Jüngere, hatte einem solchen Geschehen noch nicht beigewohnt und fieberte diesem "Ereignis" deshalb regelrecht entgegen. Doch während sie an jenem Altjahrsabend alle mit ihrer noch kindlich ausgeprägten Vorfreude ansteckte, ging ihre Schwester Gisela still nach draußen und wanderte in Gedanken versunken durch die verschneiten Straßen der Stadt. Ihr Wünschen und Sehnen war an diesem letzten Abend des Jahres noch stärker als sonst auf Werner, ihren Werner ausgerichtet, einen Kaufmanns
sohn, mit dem sie so gut wie verlobt gewesen war. Vor gut einem Jahr aber war er aus der Stadt verschwunden, und sie hatte seither nichts von ihm gehört. Kein Gruß, kein Brief, kein Lebenszeichen hatte sie erreicht.

Sie ging, wie so oft, wenn sie der Schmerz um ihr verlorenes Glück zu ersticken drohte, zu der Brücke, die über den Strom führte. Mitten darauf blieb sie stehen. Ihre Gedanken waren dunkel wie die Wasser des Flusses, auf den sie hinabschaute. So verweilte sie lange, nichts von dem Treiben hinter sich wahrnehmend. Noch war er nicht in Eis erstarrt, der Strom. Das war selten um diese Jahreszeit, aber in ihr, so meinte sie mitunter, erstarrte langsam etwas, nämlich die Hoffnung, daß Werner zurückkehren würde.

Als sie nach Hause kam, war der Abendbrottisch schon gedeckt. Es gab einen Kartoffelsalat, wie ihn nur die Mutter konnte, so meinten die Kinder immer, und dazu gab es heiße Würstchen. Und es duftete auch schon köstlich nach Grog. Freunde der Eltern waren gekommen. Lebhaftes Geplänkel erfüllte die Stube.

Gisela begrüßte alle herzlich und setzte sich still dazu. Plötzlich aber durchfuhr es sie wie ein heißer Strahl; denn Werners Name wurde genannt und die Neuigkeit, die sich damit verband, ausführlicher ausgebreitet. Was Gisela davon erreichte, war aber kaum mehr als die Tatsache, daß ihr Liebster wieder in der Stadt war. Heute, am letzten Tag des Jahres, sollte er zurückgekehrt sein! Jetzt wäre Gisela am liebsten hinausgelaufen, aber sie nahm sich zusammen, um sich vor den Anwesenden eine Erklärung zu ersparen. Niemand hier wußte etwas von der Liebe zwischen ihr und jenem Kaufmannssohn, auch die Eltern und Ursula nicht.

Nach dem Abendessen zündete Mutter Jekstat die Kerzen am Weihnachtsbaum noch einmal an, und anschließend sang man einige der bekanntesten Weihnachtslieder. Wie in jedem Jahr. Währenddessen rückten die Zeiger der alten Standuhr immer weiter vor, dem Ende des alten Jahres entgegen.

Auf der Straße wurde es lauter. Ursula eilte ans Fenster. Sie berichtete, daß sich dort schon ein Neujahrsbock bewegte, der neckisch herumstieß. Dann begann endlich die letzte Stunde vor Mitternacht, und mit ihr kamen die Utensilien für das Bleigießen auf den Tisch. Ursula als Jüngste sollte beginnen. Aber sie traute sich nicht. Sie wollte erst einmal sehen, wie die Sache für ihre Schwester ausging. Also griff Gisela nach der kleinen Kelle mit dem Blei, um sie über die Kerzenflamme zu halten. Ihre Hand zitterte vor Erregung, was aber nicht auf dieses Tun zurückzuführen war. Langsam schmolz das Blei. Und länger als nötig ließ sie es in der kleinen Kelle, als wolle sie das Ergebnis beschwören.

Dann goß sie das verflüssigte Metall mit einem kleinen Schwung in das bereitstehende kalte Wasser. Sekunden später holte die Mutter das entstandene Gebilde heraus. Es war ein Ring, das bestätigten alle. Keine andere Deutung ließ dieser Bleiguß zu. "Nu bin ich gespannt, wer uns da unsere Kronprinzessin wegholen wird!" sagte die Mutter.

Jetzt griff Ursula nach dem Löffelchen. "Vielleicht holt mich im nächsten Jahr auch schon einer weg!" kicherte sie schelmisch, während sie das ihr überlassene Bleistück über die Flamme hielt. Alle lachten herzlich. Aber der Vater warf ein: "Nu man sachte, sachte! Kaum de Lehr angefangen und all solche Flausen im Kopp, das geht allemal zu weit!" Wieder zischte das Blei in der Wasserschale. Und was herauskam war ein Gebilde, das man absolut als ein Herz bezeichnen konnte.

"Die erste Liebe scheint tatsächlich all auf unsre Muschelpupp zu lauern!" äußerte sich die Mutter erstaunt gebend. Und Ursula betrachtete sich, das sie da gegossen hatte, immer von neuem mit recht geheimnisvollem Blick.

Die nun folgenden Bleigüsse der Erwachsenen wurden mit weitschweifenden Auslegungen bedacht und von viel Gelächter begleitet.

Dann rückten die Zeiger auf zwölf vor. Die Sektgläser klangen. Das neue Jahr begann. Gisela und Ursula brachen gleich darauf auf. Sie zogen ihre Mäntel an und beeilten sich hinauszukommen. Die Straßen waren voller Menschen, die sich durch nahezu unaufhörliches Prost-Neujahr-Rufen zu einer Gemeinschaft vereinten. Dazu läuteten die Glocken aller Kirchen. Gisela Jekstat ging inmitten all der Lebendigkeit jedoch wie im Traum dahin. Die Hände hielt sie leicht zusammengekrallt in ihrem silbergrauen Muff verborgen, den Blick streng geradeaus gerichtet, jeden Entgegenkommenden genau betrachtend. Dann aber schob sich ganz plötzlich von hinten her ein Arm unter ihren Ellenbogen. Werner!

Vor Glückseligkeit unfähig, etwas zu sagen, schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Und er drückte sie fest an sich, ebenfalls ohne noch ein Wort über die Lippen gebracht zu haben. Er hielt sie so fest, als könne sie ihm entrissen werden.

Sie vergaßen das Treiben um sich herum, nicht einmal der Gedanke an Geheimnistuerei kam in diesem Augenblick in ihnen auf. Für sie zählte nur, daß sie sich wiederhatten. Noch in derselben Nacht gingen sie zu Giselas Eltern, die jetzt nur noch allein bei Kerzenlicht am Tisch saßen.

Sie erzählten ihnen von ihrer Liebe und dem Leid, das über sie hereingebrochen war durch Werners plötzliche schwere Krankheit, die nur knapp am Tode vorbeigeführt hatte und die er hatte auskurieren wollen, ohne jemand damit zu behelligen. Nun aber, da er wieder ganz gesund war, wollten Gisela und er nicht länger aufeinander warten, sondern so schnell wie möglich heiraten.

Nach dieser Offenbarung wurden bei Jekstats in jener Nacht noch einmal die Sektgläser gefüllt, und es wurde in allem Einvernehmen auf eine gute, gemeinsame Zukunft angestoßen. Nur ein paar Stunden nach dem erstaunlichen Silvesterorakel war Gisela so gut wie verlobt.

 

Tilsit damals: Blick auf die Königin-Luise-Brücke bei Eisgang,
 
     
     
 
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