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Ein langer Ritt nach Königsberg

 
     
 
Touristen haben Ostdeutschland schon vor Jahren als Ziel entdeckt. Auswanderer dagegen haben vor einer Übersiedelung in dieses große, unverbrauchte Land zumeist zurückgeschreckt. Nur vereinzelt bringen junge Deutsche oder frühere Bewohner Ostdeutschlands den Mut auf, sich allen Widrigkeiten zum Trotz im Land der dunklen Wälder und kristallklaren Seen niederzulassen. Umso bemerkenswerter ist es, wenn eine Schweizerin ihre Auswanderung
in das nördliche Ostdeutschland vorbereitet.

Seit letztem September nimmt Jacqueline Schaffter, schweizerische Staatsbürgerin vom Jahrgang 1951 und Abonnentin des es, Russischkurse, und in ihrem etwas abseits gelegenen Haus auf einer Anhöhe von Cousset sammelt sich mehr und mehr Literatur über das Königsberger Gebiet und dessen Metropole an. Sie beschäftigt sich ernsthaft mit dem Gedanken, in das nördliche Ostdeutschland auszuwandern.

Nein, eine Abenteurerin sei sie eigentlich nicht, meint Jacqueline Schaffter, nicht einmal besonders mutig. Früher, als Mädchen, da habe man sie nicht einmal mit einer Tafel Schokolade überreden können, Turnübungen auf dem Reck zu machen. Was sie aber haßt, ist Monotonie. Sie arbeitet seit 25 Jahren beim Gestüt in Avenches, habe da einen abwechslungsreichen Job, doch eine innere Stimme sage ihr, das Gestüt sei noch nicht alles gewesen.

Nach 35 Dienstjahren könne sie sich frühzeitig pensionieren lassen, blickt Jacqueline Schaffter in die Zukunft. "Mit der Pension kann man hier nicht leben, dort hingegen schon. Mein Traum wäre es, mich dort niederzulassen, in einem kleinen Häuschen, wo ich Zeit hätte, zu malen und etwas zu schreiben."

Gerne würde sie sich in Ostdeutschland irgendwo engagieren, wo sie auch zur Entwicklung der Region beitragen könnte. Beispielsweise im Tourismus oder im sozialen Bereich.

Selber ein Geschäft aufzubauen, kann sich Jacqueline Schaffter aber nicht vorstellen. Dazu fehle ihr der Mut. Auch sie hat schon vieles über die Russenmafia gehört – davon, daß Gewerbetreibende jeden Monat Schutzgelder abliefern müssen, ansonsten ihr Laden kurz- und kleingeschlagen wird. "Ich glaube aber, als kleiner Mann oder kleine Frau riskiert man nicht viel, wenn man unauffällig bleibt."

Etwas unsicher fragt Jacqueline Schaffter, ob diese Einschätzung naiv erscheine. "Ich lasse mich schnell übers Ohr hauen; ich habe ein großes Gottvertrauen. Trotzdem: Bis jetzt ging’s mir so sehr gut. Ich habe einen optimistischen Charakter."

Sie wolle die Jahre nicht ungenutzt vergehen lassen, sondern sich vorbereiten, meint die Auswanderungswillige. Sie ist deshalb auf der ständigen Suche nach Kontakten, die ihr vielleicht eine Arbeit vermitteln können. So habe sie kürzlich ausführlich mit einem Agrar-Ingenieur gesprochen, dessen Kollege in Mecklenburg-Vorpommern eine Pferdezucht aufgebaut hat. "Das könnte ein Sprungbrett sein."

Und dann weiß sie auch von einer Freundin, die sich in Polen selbständig gemacht hat. Zwar wolle sie sich gewissermaßen vorbereiten, aber wenn plötzlich ein Superangebot komme, dann werde es schnell gehen.

Das russische Konsulat in der Schweiz hat Jacqueline Schaffter noch nicht kontaktiert. Das wolle sie erst tun, wenn es konkret wird. Sie glaubt nämlich, daß sich bis dahin die Verhältnisse und Regelungen immer wieder ändern werden. Wenn es denn einmal so weit sein sollte, so der russische Konsul in Bern, werde der Vorsitzende einer speziellen Bürgerschaftskommission in Rußland über ein Einwanderungsgesuch entscheiden.

Das spezifische Interesse an Ostdeutschland geht auf "Magadino" zurück. "Magadino" ist ein Trakehner Hengst. Sie übernahm ihn als 6jährigen und baute während der folgenden sieben Jahre eine intensive Beziehung zu dem Pferd auf. Sie nahm Dressurunterricht mit "Magadino", wobei sich der Hengst sehr gelehrig gezeigt habe. Zusammen machten sie die Lizenz und viele Dressurprüfungen, bevor der Hengst vor vier Jahren eingeschläfert werden mußte.

Nach dem Tod des Pferdes fertigte Jacqueline Schaffter ein Ölgemälde ihres Lieblings an, das noch heute in der Wohnstube einen Ehrenplatz genießt. Vor allem aber begann sie sich für die Herkunft des Pferdes zu interessieren.

So fand sie heraus, daß die Trakehner bis zum letzten Weltkrieg ein Riesengestüt in Ostdeutschland bildeten. Durch den Krieg ging die Region um Königsberg und somit auch die Trakehnerzucht an die sowjetische Verwaltung über. Dieses Pferdegebiet wurde unter sowjetischer Kontrolle zu einem militärischen Sperrgebiet und damit für den Westen verschlossen. Darüber hinaus fand Jacqueline Schaffter im Verlauf ihrer Nachforschungen heraus, daß auch ihre eigenen Vorfahren ursprünglich aus Preußen stammen, wobei der genaue Herkunftsort unsicher sei. Aus all diesen Eindrücken heraus formte sich schließlich der Entschluß, daß dies das Land sei, wo sich Jacqueline Schaffter gerne niederlassen möchte.

Die Pferdenärrin hat einiges über die Geschichte Ostdeutschlands gelernt – eine Geschichte, die von Flüchtlingen aus ganz Mitteleuropa, von intensiver Entwicklung, von Auseinandersetzungen, Krieg, Vertreibung und von militärischer Abriegelung geprägt gewesen war.

Mittlerweile, so hat sie erfahren, habe sogar ein russischer General von der Absicht gesprochen, daß Ostdeutschland wieder mit Deutschland vereint werden solle. Dies spielt für die ausreisewillige Schweizerin indes keine Rolle. Sie hat sich in die Region vernarrt und nicht in eine Nationalität. Ostdeutschland stehen aufregende Zeiten bevor. Und Jacqueline Schaffter möchte ein Teil davon sein.
Urs Haenni/Freiburger Nachrichten

 
 
     
     
 
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