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Zwischen Geschichte und Nachgeschichte

 
     
 
Der Historiker" sei ein "rückwärts gekehrter Prophet", bestimmte Friedrich Schlegel vor 200 Jahren kurz und knapp. Es war die Zeit der großen geschichtspolitischen Entwürfe, die – wenn auch vom Historismus gezügelt – das europäische Geschichtsdenken tief geprägt haben. Den Historikern ist zwar mittlerweile die Sicherheit abhanden gekommen, Geschichte nach höheren Begriffen zu ordnen, gelegentlich jedoch können sie von ihrer seherischen Tradition nicht lassen. So auch Ernst Nolte
, der freilich schon immer mehr Philosoph als Historiker gewesen ist. Sein neuestes Buch – nun wieder bei Piper verlegt – gibt sich einer großen Versuchung hin: der Nachgeschichte.

Die Möglichkeit eines geschichtslos-paradiesischen Endzustandes ist seit alters ein spekulatives Faszinosum. Der Realitätsgehalt einer solchen Vorstellung aber scheint nun unabweisbar stark geworden zu sein. Unser Jahrhundert könnte sich als Übergang zu einem Zustand darstellen, den man "Nachgeschichte" nennen mag. Wird diese "post-histoire" die Wirklichkeit des uralten utopischen Traumes sein, der im 18. und 19. Jahrhundert "wissenschaftliche" Weihen erhielt? Sind die Vokabeln "Weltstaat", "Zivilisation", "Kultur", "Menschheit" angemessen, ausreichend gar?

Eine Vorstellung von Nachgeschichte setzt einen Begriff von Geschichte voraus. Um das Bestimmen eben dieser "historischen Existenz" geht es Nolte. Natürlich hat der Mensch stets eine Vergangenheit, aber Nolte grenzt von dem bloßen Geschichtlich-Sein einen "engeren Begriff der Geschichte" ab. Er fragt nach den "historischen Existenzialien", nach den "wesentlichen Merkmalen" der historischen Epoche. Diese Frage beansprucht keine Originalität, die vorgelegte Antwort auch keine Vollständigkeit, doch Nolte nimmt für sich in Anspruch, die Grundzüge menschlichen Daseins zwischen Anfang und (vielleicht) Ende der Geschichte systematisch untersucht zu haben. Er entwirft auf 750 Seiten ein Schema, das weniger und zugleich mehr sein will als das Gerüst einer Universalgeschichte.

Noltes neues Thema ist zugleich sein altes. Diejenigen, die nach "politisch unkorrekten" Stellen suchen, werden ebenso befriedigt wie diejenigen, die von Nolte Provokationen für das Erforschen totalitärer Verirrungen in ihrem Zusammenhang erwarten. Nolte stellt sich zwar in die Tradition des Geschichte-Erzählens, der narratio historica, und sieht sich zudem als "Geschichtsdenker" in der Nachfolge Alfred Webers, Spenglers, Toynbees, Jaspers’, Rüstows. Er grenzt sich damit ab von abstrahierenden "Geschichtsphilosophen", gleichwohl ist sein Denken im Kern spekulativ.

Was sind die Kennzeichen "historischer Existenz"? Nolte nennt Religion, Herrschaft, soziale Schichtung, Adel, Krieg, Verstädterung, das soziale Aufbegehren und die Linke, dann Geschichtsschreibung, Wissenschaft. In immer neuen Ansätzen, bis in unser Jahrhundert fortschreitend, füllt er sein Schema anhand dieser Kategorie inhaltlich, zeichnet einen gewaltigen Umriß der Historie. Der Gang der Untersuchung beginnt mit dem Naturgeschehen, führt über "Menschwerdung", "Vorgeschichte" und frühe Hochkulturen zur "Neolithischen Revolution", weiter über die "großen Zeugnisse" Gilgamesch-Epos, Ilias, Altes Testament in das historische Zeitalter hinein mit seiner Dynamik und Beschleunigung, mit seinen Fortschritten und Emanzipationen, seiner Säkularisierung, aber auch mit dem Gefühl kultureller Überlegenheit.

An der Differenz zur "Vorgeschichte" macht Nolte deutlich, was ihm Geschichte heißt: Schriftlichkeit, Kultivierung, Ethisierung, Anthropomorphisierung, Monotheismus. Doch maßgeblich für die Bestimmung der historischen Epoche sind ihm eigentlich Herrschaft, Krieg, Staatenbildung. Der Weltstaat ist für ihn kein Staat – und eine Zeit ohne Staaten keine Geschichte mehr.

Kommt die "historische Existenz" an ihr Ende? Nolte erörtert diese Frage bevorzugt am Phänomen "Emanzipation, Aufbegehren der Unterdrückten, Linke". Hier hat das Werk auch seinen historischen Drehpunkt. Die "Linke", die der Autor bis in die Frühzeit verfolgt, interpretiert er als Widerstand gegen "ungerechte Realitäten" und Krieg, als Revolte gegen die Geschichte selbst. Die "Linke", das wäre seit alters die politische Form der Eschatologie, der Verwirklichung des Utopischen, der potentiellen Nachgeschichte.

Nolte skizziert sodann das Entstehen der modernen Linken und setzt dagegen Bewegungen, die das geschichtliche Prinzip zu verteidigen meinten. Ist das der geschichtsphilosophische Schlüssel für unser gewaltsam-irrendes Jahrhundert? Nolte fragt, ob das revolutionäre Herbeiführen der Nachgeschichte oder die Verteidigung der "ungerechten" Geschichte zu größeren Untaten in der Lage war. Sein jüngstes Opus zeigt sich mithin als konsequente Fortsetzung von "Der Faschismus in seiner Epoche" (1963) und "Der Europäische Bürgerkrieg" (1987): Nun aber werden die totalitären Ideologien in die Gesamtheit des historischen Seins gestellt. In den Kapiteln 49 und 50 trägt Nolte seine These vom ursächlichen Zusammenhang zwischen Gulag und "Auschwitz" sowie dem historischen "Vorher" des roten Terrors erneut und ausführlich vor. Der Eindruck läßt sich nicht abweisen, der Text laufe zielstrebig auf das Thema des "Historikerstreits" zu.

Nolte selbst: "Wird in dem vorliegenden Buch die unumgängliche Selektion in der Weise vorgenommen, daß ein ,umstrittener‘ Zeithistoriker […] seinen ,Revisionismus‘ jetzt aus der Weltgeschichte heraus neu begründen will?" Die Frage ist rhetorisch. Nolte sieht es umgekehrt: Bereits vor 35 Jahren sei er auf dem Weg zu einer Betrachtung der Geschichte als Ganzes gewesen.

"Rot" besitze die größere Ursprünglichkeit als "Braun", sei stärker, weil es in der Tradition ältester Menschheitsträume stehe, und "Braun" sei als Reaktion zu verstehen: So lautet die vergleichend-genetische Grundthese Noltes über die Totalitarismen unseres Jahrhunderts. Faschismus und Nationalsozialismus (für Nolte ein "Radikalfaschismus") wären primär ein nationalistischer Antibolschewismus, "der sich mittels des Antisemitismus eine primitive Waffe gegen den Marxismus geschaffen" habe. Und nun versucht Nolte, diesen Gedanken geschichtsphilosophisch einzufangen. Der Kommunismus, Höhepunkt der "Linken", wird vorgestellt als Ideologie, die Geschichte in der klassen- und staatenlosen Gesellschaft aufheben will. Der Haß "der Linken" auf die Geschichte hätte zu dem Versuch geführt, ein Jenseits der Geschichte herbeizuführen – und dafür auch Millionen von Subjekten der alten Geschichte (Reaktionäre) zu opfern.

Das Streben nach Überwindung von Schichtung, Krieg, Staat, Politik mußte jedoch, so Nolte, einen Gegner erwecken, der sich als Verteidiger der "historischen Existenz" verstehen konnte. Der Bolschewismus, eine "europäische Bürgerkriegspartei, die sich die Errichtung des Weltstaats zum Ziel setzte", rief den Faschismus hervor, der eine "nationale Geschichte und die Geschichte überhaupt" mit gleicher Leidenschaft verteidigen wollte.

Für Nolte erklärt das nicht nur die Militanz der faschistischen Reaktion (es war ein Todeskampf der Ideologie des Historischen), sondern er sieht letztlich eine Verkehrung. So führte auch der Faschismus zu einer Negation der Geschichte, und zwar "von der Vorstellung einer ganz und gar gesunden Gesellschaft" her. Für diese "Rechte" sei Geschichte eine Geschichte der zersetzenden Emanzipation gewesen. In sich stimmig ist dieses Muster nicht. Denn der Faschismus verteidigte, folgt man Nolte, zwar typische Merkmale der Geschichte wie Staat, Herrschaft, Schichtung, doch er brach mit dem historischen Leitexistenzial: der Kultivierung, der Ethisierung, der Zivilisierung. Der Faschismus erweist sich vor allem deshalb als ein Gegner der Geschichte im Sinne eines Geschehenlassens des Allzumenschlichen. Er repräsentiert gerade nicht die "Rechte".

Das Buch hat einen zweiten, einen geschichtsphilosophischen Angelpunkt: den Begriff der Transzendenz. Für Nolte heißt Transzendenz Überschreiten der Lebenswelt auf einen "Welthorizont" hin. Bedeutet Transzendenz mithin Überwindung der Geschichte?

Nachgeschichte als Triumph der praktischen Transzendenz, Ausgriff des Menschen auf die Welt, totale Machbarkeit: das ist die geschichtsphilosophische Wiederkehr der Heideggerschen These von der Vergessenheit des Seins im abendländischen Denken. Wird die "Wahrheit des Seins" durch die praktische Transzendenz verdeckt? Den Philosophen hat dieses Problem immer fernere Ursprünge des "eigentlichen" Denkens suchen lassen; und von der Frage des Anfangs wird auch der Historiker eingeholt. Die praktische Trans-zendenz kann als Verkehrung der theoretischen und als ein schon nachgeschichtliches Prinzip gelesen werden, und Nolte neigt dazu. Aber ebenso darf die praktische Transzendenz selbst als ein Phänomen der Geschichte ausgelegt werden: Die theoretische also trägt die praktische Welteroberung, die Geschichte trägt die Nachgeschichte in sich. Doch warum sollte das "Denken der Welt im ganzen" geschichtlich, der praktische Ausgriff auf die Welt im ganzen aber nachgeschichtlich heißen? Und wie kommt Noltes philosophisches Gerüst mit dem historischen Schema Staat, Schichtung, Linke überein? Und ist die Nachgeschichte ein Ergebnis der Moderne oder ein Begleiter der Postmoderne, in der moderne Kategorien wie das Subjekt wieder beschränkt werden?

Nolte verfolgt seine beiden Grundthesen – das Erstarken "antigeschichtlicher" Kräfte und die Ermächtigung der praktischen Transzendenz – bis in die Gegenwart. Er zeigt die geschichtsfeindliche Tendenz der vielgestaltigen Linken, die ungeachtet mancher Wendungen Differenzen beseitigen will, und keineswegs nur soziale. Das Fehlen der Schichtung, den Egalitarismus liest Nolte als Zeichen der Nachgeschichte. Doch er deutet auch die Globalisierung, die "wissenschaftlich-technische Konkurrenzökonomie" als Schritt hin zur Weltzivilisation. Der Weltstaat – alles was auf diesen hinläuft: Liberalismus, "Amerikanismus" – sind für Nolte Tendenzen der Nachgeschichte. Mit der "einen Welt" drohe die "Geschichtslosigkeit".

Doch unterscheidet sich Noltes Zukunft von Francis Fukuyamas liberal-optimistischem "Ende der Geschichte": Erstens hält Nolte eine Rückkehr der Geschichte, wenngleich auf anderer Ebene als die der Nationalstaaten, für möglich. Nachgeschichte erwiese sich dann als bloßer Wandel, als Steigerung der historischen Existenzialien. Zweitens hängt Nolte an der Tradition. Die Nachgeschichte prophezeit er als ein Zeitalter, das sich keinesfalls so idyllisch darstellen werde, wie es Utopisten oder Globalisten erträumten und jetzt erwarten. Ob die Wirklichkeit des Utopischen und der Sieg der praktischen Transzendenz die Menschen näher an die "Wahrheit des Seins" bringen, ist Nolte sehr fraglich. Und er warnt vor einer globalen Egalitätsdoktrin. Die Reaktion würde möglicherweise gewaltig ausfallen: "Der Epoche des Nationalfaschismus und des sowjetkommunistischen Überstaates könnte eine Epoche des Kultur- bzw. Kontinentalfaschismus folgen, der sich wohl auch und gerade im nicht-okzidentalen Teil der Welt durchsetzen würde." Das Vergangene als das Zukünftige, düsterer nur?

Wenn Nachgeschichte unberechenbare Dekadenz bedeutet, steht die Frage nach dem Zusammenhang: Ist Geschichte bloß Verfall und die Nachgeschichte dessen Endpunkt? Oder sind Geschichte und Nachgeschichte etwas qualitativ anderes? Noltes Schema ist starr und in der historischen Konkretion zu stark am Kriterium "Staat" orientiert. Schließlich: Was ist "wesentlich" für Geschichte? Geschichte hängt am Geschichtsbewußtsein und einem bestimmten kulturellen Selbstverständnis. Geschichte beginnt, wenn der Mensch sich seiner Geschichtlichkeit bewußt wird, sie endet, wenn sich ein Denken aus traditioneller Gebundenheit löst.

Störend ist überdies eine Formalie: Wer soll dieses voluminöse Exempel deutscher Gelehrsamkeit "im Ganzen" lesen? Die populärwissenschaftliche Breite nimmt den gewagten Thesen die Brisanz, der Darstellung den Schwung, verdeckt das Originelle im Narrativen. Als straff-präziser Essay aber könnte die "Historische Existenz" wahrlich für Furore sorgen. Denn Nolte hat einen wichtigen und in der Substanz geistreichen Beitrag zum okzidentalen Selbstverständnis einer Spätzeit vorgelegt – die vielleicht bereits eine Frühzeit ist.

Ernst Nolte: Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?, Piper Verlag, München 1998, 766 Seiten, geb., 78 Mark

 
     
     
 
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