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Ein steiniger Weg führte durch die Hölle

 
     
 
Nachdem unser Vater von den Russen verschleppt worden war, mußte Mutter alle Tiere allein versorgen. Außer den beiden Pferden befand sich bis zu diesem Zeitpunkt ja noch alles Viehzeug in den Stallungen. Auch das Melken sowie die Verarbeitung der Milch fiel allein ihr zu. Das Durchstreifen der Gehöfte wurde mehr und mehr mit Plünderungen verbunden. Kein Tag verging, an dem nicht eine Kolonne
die nächste abgelöst hätte. Uhren waren neben Goldschmuck die beliebteste Beute. Mutters Ehering war den Russen schon zu sehr abgenutzt und außerdem war er bereits eingewachsen, deshalb verzichteten sie großzügig darauf. Vorsichtshalber entfernte Mutter ihn dann aber selbst, denn vielleicht hätte ein anderer Gefallen daran gefunden und ihr dabei noch den Finger abgerissen.

Sämtliche Schränke wurden mehrmals täglich ausgeräumt, durchwühlt und alles Brauchbare mitgenommen. Eine Gruppe durchkämmte den Küchenschrank systematisch, bis sie die Sparbücher entdeckt hatte. In einem befand sich ein ansehnlicher Bargeldbetrag, den der Postbote erst wenige Wochen zuvor gebracht hatte. Es sollte das Äquivalent für ein Pferd sein, das Vater noch in den letzten Kriegsmonaten hatte an die Wehrmacht abtreten müssen. Aber da half auch kein Betteln und Flehen von Seiten der Mutter, hämisch und grinsend verschwand alles in ihren Taschen.

Was sie nicht mitnahmen, wurde zerstört. Laut fluchend warfen sie die großen mit Schmand gefüllten Steintöpfe gegen die Stallwände. Lange noch waren die fettigen Schandflecke auf den roten Ziegelsteinen sichtbar. Die Rabiatesten unter ihnen machten sich einen Jux daraus, die Hühner von ihren Sitzstangen zu schießen. Das Rupfen mußte Mutter erledigen. Die Männer fühlten sich wie im Schlaraffenland. Die Schweine wurden aus ihren Boxen gezerrt, geschlachtet und mittels Strohfackeln abgesengt. Mit Hilfe von Handgranaten wurden die Fischteiche abgefischt.

Nach mehreren Wochen, bis dahin waren wir die einzigen Zivilisten weit und breit gewesen, kehrten nach und nach einzelne Familien wieder zurück. Ruhelos waren sie umhergeirrt und hatten doch nicht das rettende Nadelöhr finden können, das ihnen den Weg ins Reich geglättet hätte. Wie gehetztes Wild suchten Mütter mit ihrem Nachwuchs eine Bleibe in menschlicher Nähe. So ergab es sich, daß unser Gehöft über Nacht zu einer Zufluchtstätte schutzbedürftiger Frauen mit ihren erschöpften Kindern wurde. Jedenfalls waren der Altenteil und unsere Gute Stube voll belegt. In dem größten Zimmer schliefen wir alle gemeinsam - in langer Reihe - auf dem Fußboden. Niemand wollte eine Sonderrolle spielen. Zu groß war die Angst vor den nächtlichen Belästigungen der Eindringlinge. Die Kleidung hatten wir doppelt und dreifach übereinander gezogen, denn was man nicht am Leibe trug, wurde geplündert.

Solange die Milchkühe im Stall standen, war die Versorgung gesichert. Es mangelte uns an nichts. Die Frauen verrichteten die anfallenden Arbeiten gemeinsam. In den Scheunen stapelte sich auch noch das im letzten Sommer eingefahrene Getreide. Die Frauen droschen es mit Hilfe von Flegeln aus, mahlten Roggen oder Weizen - je nach Bedarf - auf der Schrotmühle zu Mehl und Kraftfutter für die Tiere. Kartoffeln und Rüben waren in den Mieten ebenfalls vorrätig.

Anfang März dann mußten schließlich alle Rinder zum Abtransport gen Osten zusammengetrieben werden. Mutter und wir zwei größeren Mädchen wurden auch dafür bestimmt. Auf den Feldern lag stellenweise noch Schnee. Russen auf Pferden begleiteten das Spektakel. Keuchend hetzten wir über die aufgeweichten Sturzäcker den immer wieder ausbrechenden Tieren hinterher.

Bei eintretender Dämmerung schickte man uns Kinder nach Hause. Querfeldein rannten wir zurück. Doch die Angst und Sorge um den Verbleib unserer Mütter beunruhigte uns kolossal. Nach bangen Stunden des Wartens kehrten auch sie heim. Zur Freude aller trudelte auch eine Kuh wieder auf unserem Hof ein. Dankbar, wieder Milch zu haben, konnten wir sie nun noch einige Tage versteckt halten.

Nach dem Abtransport aller Viehbestände galt der Raubbau den Getreidevorräten. Unter russischem Kommando wurden Dreschkolonnen zusammengestellt, was für die Frauen Schwerstarbeit bedeutete. Aus den Futterrüben versuchten die Frauen Sirup herzustellen. Es gab Sirup aufs Brot, Sirup als Süßungsmittel, Sirup - nur noch Sirup.

Vorsorglich wurden die Töpfe eingegraben, denn auch dieses Nahrungsmittel war vor den Zugriffen der Peiniger nicht mehr sicher. Frisch gegrabener Erdboden war stets verdächtig und wurde automatisch nach "Schätzen" durchwühlt.

Ruhelos waren alle Menschen stets auf der Suche nach Eßbarem. Es hatte sich herumgesprochen, daß Russen sich auf dem Gut Mäken niedergelassen hatten, die Milchwirtschaft betrieben. An bestimmten Wochentagen gaben sie kostenlos Magermilch an die hungernde Zivilbevölkerung ab. Zig Menschen pilgerten - aus allen Richtungen kommend - immer wieder dort hin, um das begehrte "blaue Wasser" zu erhaschen. Mitunter geschah es auch, wenn der Andrang gar zu groß war, daß die Milch nicht für alle reichte.

Nach all den deprimierenden Demütigungen, welche die Sinnlosigkeit des noch zu erwartenden Lebens widerspiegelten, muß unsere Mutter in ihrer Verbitterung an einem schier unüberwindbaren Tiefpunkt angekommen sein. Der Lebensmut mußte sie total verlassen haben. Mit zitternder Stimme unterbreitete sie uns größeren Mädchen an einem dieser hoffnungslosen Tage den Vorschlag: "Papa", so stammelte sie, "kemmt nich wedda, wear hoabe nuscht mehr vom Lebe zu erwoarte! Wear fasse oans alle an de Händ on gehe zusamme en den Miehlteich!"

Betroffenheit und sekundenlanges Schweigen von unserer Seite. "Nein, nein!" Erschrocken, zutiefst geschockt, unterbrach ich ihre resignierten Gedankengänge, bevor die große Schwester überhaupt dazu Stellung nehmen konnte. Ich stellte mir diesen schlammigen Mühlteich vor. Ekel kam in mir hoch. An jenen morastigen Ufern häufte sich fortwährend jede Menge Unrat. Nein, das kam nicht in Frage.

Im Herbst 1945 begann die Besiedlung Ostdeutschlands durch polnische Familien. Unser Anwesen wurde von einer achtköpfigen Familie in Besitz genommen. Für unsere Mutter und uns Kinder bedeutete jener nächtliche Überfall das sichere Aus. Nach und nach vertrieben sie uns von Haus und Hof, so daß wir letzt-endlich auch kein Dach mehr über unseren Köpfen hatten. Bis zur endgültigen Ausweisung aus Ostdeutschland im Herbst 1947 blieb uns aber auch gar nichts erspart. Ein steiniger Weg führte durch die Hölle.
 
     
     
 
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